9. März 2023
Die Corona-Pandemie zwang die Ärztin Anna Brock, das Gesundheitssystem vor allem aus der Patientenperspektive zu erleben. Anfang 2021 steckt sie sich bei einer Visite in einem Altenheim mit Covid an, 14 Tage lang bleibt die Internistin aus Filderstadt bei Stuttgart schwer krank. In Woche drei fühlt sie sich erholt, in der vierten Woche sind die Beschwerden wieder da, heftiger als zuvor: Brock ist erschöpft, leidet an Muskelschwäche, dazu immer wieder diese kognitiven Aussetzer. „Ich wusste nicht mehr, dass man ein Messer braucht, um ein Brot zu schmieren“, erinnert sich die 43-Jährige heute.
Gerade, als es Brock im Sommer 2021 endlich wieder richtig gut geht, kommen die Beschwerden nach einer Impfung abermals zurück. Es folgt ein monatelanges Auf und vor allem Ab. Am Ende des Jahres ist sie krankschreiben und wird es zehn Monate lang bleiben. Die sportliche Ärztin schafft es kaum noch eine Treppe hoch und zeitweise nicht einmal aus dem Bett. In all den Monaten erlebt sie, was so viele andere Long-Covid-Patienten auch beschreiben: „Ich bin von Arzt zu Arzt gegangen und wurde nicht ernstgenommen, nirgendwo mit spezielleren Diagnoseverfahren untersucht.“ Einen Vorwurf macht sie ihren Kollegen nicht: „Ich war ja auch nicht besser“, sagt Brock, „den Kollegen fehlte einfach das Wissen, die waren komplett hilflos.“
Postvirale Beschwerden, für die es weder eingeübte Diagnoseverfahren noch Standard-Therapien gibt, haben das Gesundheitssystem an seine Grenzen gebracht. Am Ende ihrer Ärzte-Odyssee hat Brock endlich einen Ansatz: Sie findet Autoantikörper in ihrem Blut, Antikörper also, die sich gegen das eigene Gewebe richten. Und sie wagt einen experimentellen Therapieversuch, den sie mit 13.000 Euro aus der eigenen Tasche bezahlen muss: eine Immunadsorption, die die Autoantikörper aus ihrem Blut wäscht.
Nach drei Jahren Pandemie ist einerseits noch immer unklar, was genau Long Covid oder PostVac, also Long-Covid-ähnliche Beschwerden nach einer Impfung, auslöst – und was dagegen hilft. Andererseits gibt es zahlreiche Hinweise auf mögliche Mechanismen und fast schon etablierte Off-Label-Therapien. Doch weil klinische Studien fehlen, stehen die den wenigsten Patienten zur Verfügung – und kaum ein Arzt riskiert es, sie durchzuführen. In ihrer Not greifen viele Menschen im mitunter riskanten Selbstversuch zu irgendwelchen Medikamenten.
Fehlt es an einer konsequenten öffentlichen Förderung, um die Forschung voranzubringen? Viele Betroffene sehen das so. In den sozialen Medien appellieren sie täglich an Bundesforschungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP), mehr Geld bereitzustellen. Neu ist, dass auch Mitglieder der Bundesregierung ihre Diskussion über solche Fragen auf Twitter austragen, so vor wenigen Tagen.
Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) war gerade mit dem Chef von Berlin Cures zusammengetroffen – ein Startup früherer Charité-Wissenschaftler, das den vielversprechenden Wirkstoff BC007 entwickelt hat. Weil die Uniklinik Erlangen damit große Erfolge mit Heilversuchen bei einzelnen Long-Covid-Patienten erzielte, strebt Berlin Cures nun die Zulassung seines Medikaments an und kämpft um das nötige Geld für klinische Studien. „Werde auf [das Bundesforschungsministerium] BMBF noch einmal zugehen zur Finanzierung einer Studie mit BC007“, twitterte Lauterbach gleich nach dem Termin.
Die Antwort kam ebenfalls per Tweet: Man habe längst eine Pilotstudie mit BC007 bewilligt, die nur noch nicht begonnen habe, weil „Berlin Cures den Wirkstoff nicht liefern konnte“, schrieb Forschungsstaatssekretär Jens Brandenburg (FDP). Und fügte süffisant an: „Das kann man bei uns auch vor solchen Terminen erfahren.“
An den Interessen der Patienten geht das Getwitter vorbei. Im September 2021 hatte das BMBF 6,5 Millionen Euro für zehn Forschungsprojekte zu Long-Covid freigegeben, darunter auch 1,2 Millionen Euro für besagte Pilotstudie mit BC007 an der Uniklinik Erlangen. Die könnte zwar wichtige Erkenntnisse liefern – aber wegen ihrer Konzeption keine Grundlage für eine Medikamentenzulassung. Ging es Lauterbach also um Geld für eine andere Studie, eine Zulassungsstudie in Regie des Unternehmens? Sein Sprecher lässt dies auf taz-Anfrage offen. Im BMBF heißt es, es liege kein Antrag von Berlin Cures vor – und bislang auch keine Anfrage aus dem Gesundheitsministerium.
Aufgrund seiner Zuständigkeit für die Grundlagen- und Therapieforschung sieht Long COVID Deutschland vor allem das BMBF in der Pflicht, „eine massive Forschungsagenda“ auf den Weg zu bringen. Besonders wichtig für die Betroffenenorganisation: die biomedizinische Forschung. Die fördere der Bund, gemessen an der Größe des Problems, bisher nur mit einem „sehr geringen Betrag“, 14 Millionen Euro. Auch zur postviralen Multisystemerkrankung ME/CFS, die ein Teil der Long-Covid-Betroffenen entwickelt, die aber schon lange vor der Pandemie zehntausende Menschen in Deutschland zu Pflegefällen gemacht hat, sei „dringend mehr Forschungsförderung“ nötig.
Tatsächlich wirkt das Agieren des Bundes wenig koordiniert und eher zaghaft. In den USA hatte eine Regierungsbehörde bereits Anfang 2021 mehr als eine Milliarde US-Dollar für die Long-Covid-Forschung angekündigt – zu diesem Zeitpunkt gab es in Deutschland: nichts. Seither wird eher gekleckert als geklotzt.
Viel Geld fließt in die Auswertung von Daten über akute Covid-Verläufe. Mit sechs Millionen Euro will das BMBF zudem neue Technologien für Diagnose und Unterstützung von Long-Covid-Betroffenen fördern, und gerade erst bewilligte es immerhin 2,2 Millionen Euro für die Ursachenforschung bei ME/CFS. Betroffene aber schauen vor allem auf Projekte, die endlich zu kausalen Therapien und Arzneimittelzulassungen führen könnten. Ausgerechnet die Mittel für die erforderlichen klinischen Studien sind knapp.
Den größten Betrag, 10 Millionen Euro, bewilligte das BMBF im vergangenen Jahr erst auf Beschluss des Bundestages, der wiederum einigem öffentlichen Druck folgte. Für sechs klinische Studien reicht dieses Geld. Mit ihnen will eine Arbeitsgruppe um die Charité-Immunologin Carmen Scheibenbogen die Wirksamkeit von Mitteln untersuchen, die schnell verfügbar wären, weil sie für andere Krankheiten bereits zugelassen sind: ein Medikament gegen Durchblutungsstörungen, Entzündungshemmer wie Cortison, ein Neuroleptikum. Noch 2023 sollen Ergebnisse vorliegen, im besten Fall könnte es 2024 zu Notfallzulassungen für Long Covid oder ME/CFS kommen.
Auch die Wirksamkeit der Immunadsorption soll an der Charité wissenschaftlich untermauert werden – jenes Verfahren, das Anna Brock geholfen hat, wieder auf die Beine zu kommen. Kürzlich verhalf die Internistin auch einem seit Jahren bettlägerigen ME/CFS-Betroffenen zu einem durchaus experimentellen Therapieversuch, der den schwer erkrankten Mann zurück ins Leben brachte.
Sie sei grundsätzlich keine Freundin von Off-Label-Therapien, sagt Brock. Dennoch hält sie es für sinnvoll, zumindest einige etablierte Ansätze mit gut verträglichen und bei anderen Erkrankungen zugelassenen Medikamenten zu legitimieren, solange die Forschung nicht vorankommt. Vor allem dies müsse sich jedoch schnell ändern, meint sie: „Wir brauchen Therapiestudien an jeder Front.“
In der Opposition lobt man zwar gute Ansätze, fordert aber „ein schnelleres Handeln seitens der Bundesregierung“, wie Unionsfraktionsvize Sepp Müller (CDU) auf taz-Anfrage mitteilt. Aus seiner Sicht sind gemeinsame Initiativen von Gesundheits- und Forschungsministerium, die sowohl Long Covid als auch ME/CFS in den Fokus nähmen, „aktuell nicht erkennbar“. Müller wirbt für ein parteiübergreifendes Vorgehen: „Unser Ziel ist es, gemeinsam mit der Ampel die Mittel in der Forschung auszuweiten.“
Der Bedarf besteht auch in der akuten Versorgung von Long-Covid-Patienten. Die meisten Spezialambulanzen sind überlaufen, viele arbeiten nicht interdisziplinär oder beschränken sich auf Diagnostik, ohne Behandlungsoption. Menschen, die schon vor der Pandemie an ME/CFS erkrankt sind oder deren Beschwerden auf einen Impfschaden zurückgehen, finden bundesweit zudem fast gar keine Anlaufstelle. Von der Zusage des Koalitionsvertrages, ein Netzwerk von Kompetenzzentren und Ambulanzen für ME/CFS-Betroffene zu schaffen, hatte sich Lauterbach zuletzt verabschiedet.
In die Versorgung fließen öffentliche Mittel nur langsam, zäh und oft regional. Im November bewilligte der Gemeinsame Bundesausschuss 5,8 Millionen Euro für eine auf drei Jahre angelegte Studie der Uniklinik Jena. Sie will 700 Long-Covid-Betroffene wohnortnah betreuen, mit Videosprechstunden und einer mobilen Ambulanz im Bus. Und der Bundesgesundheitsminister, zuständig für die Versorgungsforschung? Ende Januar stellte Lauterbach in einem Interview mit der Rheinischen Post 100 Millionen Euro in Aussicht, um „das optimale Versorgungskonzept für Menschen mit Long Covid“ zu suchen. Ob, wann und wohin das Geld fließt, ist offen.
Stand heute investieren einige Bundesländer bereits mehr in die Long-Covid-Forschung als der Bund, allen voran Baden-Württemberg mit insgesamt 28 Millionen Euro. Viele Mittel landen bei psychiatrischen Kliniken, eher wenige bei der biomedizinischen Therapieforschung. Nicht nur deshalb werden Chancen vertan: Meist werfen die Projekte alle Long-Covid-Patienten trotz aller organischer und symptomatischer Unterschiede in einen Topf und analysieren beispielsweise ME/CFS-Fälle nicht separat. Eine bundesweite Koordination der Forschungsförderung erfolgt zudem offenbar nicht. Eine Sprecherin Stark-Watzingers erklärt dazu nur, dass man „mit einzelnen Ländern“ im Austausch stehe.
Dieser Text erschien zuerst in der
taz.
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