Die EU-Lebensmittelbehörde hat den Farbstoff Titandioxid als „nicht mehr sicher“ bewertet, ein Verbot des Zusatzstoffs für Süßigkeiten, Kuchenglasur & Co. zeichnet sich ab. Doch die Verbindung steckt EU-weit auch in 30.000 Medikamenten, von Ibuprofen-Tabletten über Cholesterinsenker bis zu Viagra-Pillen. Arzneimittelbehörden prüfen jetzt, ob das so bleiben kann.
20. Mai 2021
Titandioxid ist ein wahrer Wunderstoff: Billig herzustellen, färbt er die Zuckerglasur blütenweiß, bringt Farben in Bonbons zum Leuchten, sorgt auf Schokolinsen für einen glatten Überzug. Seit den 1960er-Jahren setzen Lebensmittelhersteller den Zusatzstoff in zahlreichen Produkten ein. Damit könnte bald Schluss sein: Geht es nach der Europäischen Kommission, wird Titandioxid von den Zutatenlisten verschwinden. Dort taucht die Verbindung oft unter dem Kürzel „E 171“ auf.
Vor wenigen Tagen stufte die Europäische Lebensmittelbehörde EFSA den weit verbreiteten Farbstoff als „nicht mehr sicher“ ein. Als Lebensmittel-Zusatz steht Titandioxid im Verdacht, erbgutschädigend und krebsauslösend zu wirken – ein Risiko, das die EFSA als zumindest nicht widerlegt betrachtet. Eine sichere Menge konnte die Behörde nicht benennen. EU-Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides will den EU-Staaten deshalb vorschlagen, Titandioxid die Zulassung als Lebensmittel-Zusatzstoff zu entziehen, auch Bundesernährungsministerin Julia Klöckner
sprach sich für ein EU-weites Verbot aus. In der Schweiz kündigten die Behörden bereits an, dass E 171 in Lebensmitteln spätestens Ende des Jahres Geschichte sein soll – welche Übergangsfristen in den EU-Staaten greifen könnten, ist offen.
Following @EFSA_EU 's new scientific opinion on the food additive E171, we will propose to ban its use in the EU.
— Stella Kyriakides (@SKyriakidesEU) May 6, 2021
🔹Discussions with Member States will start this month.
🔹Our priority is the health of citizens and the safety of the food they eat. #EUFoodSafety
Die EFSA-Bewertung hat auch die Arzneimittelbehörden in Aktion versetzt. Denn als „Hilfsstoff“ ist die verdächtige Verbindung in zahlreichen Medikamenten enthalten. Formal hat die europäische Lebensmittelbehörde zwar nur das Risiko von Titandioxid als Lebensmittelzusatzstoff bewertet – doch die Parallelen zu Arzneimitteln sind offensichtlich: Wie in Kaugummi und Backdekor sorgt das Pigment in Filmtabletten und Kapseln für strahlendes Weiß und glatte Oberflächen, die Pillen werden ebenso geschluckt wie Kuchen oder Schokonuss, von manchem Patienten täglich.
Auch für Medikamente wird Titandioxid deshalb jetzt hinterfragt. Auf Anfrage erklärte das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM), dass ein Abstimmungsverfahren zwischen den europäischen Zulassungsbehörden bereits eingeleitet worden sei. Unter dem Dach der Europäischen Arzneimittelagentur EMA solle beraten werden, welche Folgen die EFSA-Bewertung für Arzneimittel hat, ein BfArM-Sprecher der Behörde erwartete Expertengespräche bereits für die nächsten Tage. Die EMA bestätigte, dass der Einsatz von Titandioxid in Arzneimitteln auf dem Prüfstand steht: „Derzeit wird diskutiert, wie das EFSA-Gutachten auf Pharmazeutika zu übertragen sein könnte“, hieß es aus der in Amsterdam ansässigen Behörde. In „einem nächsten Schritt“ werde die EMA Informationen an die Europäische Kommission übermitteln, die dann über das weitere Verfahren entscheiden muss. Konkrete Termine stünden noch nicht fest.
Die Prüfung ist für Verbraucher wie für die Pharmaindustrie gleichermaßen von Bedeutung: Für Patienten geht es um die Frage, ob sie sich durch die Einnahme von Pillen gesundheitlichen Risiken aussetzen, die nichts mit dem Wirkstoff und dessen Nebenwirkungen zu tun haben. Für die Hersteller geht es um die Frage, ob sie die Zusammensetzung tausender Medikamente ändern müssen – denn in der Pharmaindustrie ist Titandioxin geradezu omnipräsent. Bayer nutzt es für sein Antibiotikum Ciprobay, Ratiopharm für Ibuprofen-Schmerztabletten und den Cholesterinsenker Simvastatin. Der Stoff steckt in Pfizers Viagra-Pillen ebenso wie in manchen Ritalin-Präparaten von Novartis – und das sind nur einige Beispiele von vielen. Wer in der „Gelben Liste“, einem Arzneimittelverzeichnis für Deutschland, nach Titandioxid sucht, erhält mehr als 13.500 Treffer. Die Europäische Kommission schätzt, dass in der EU 30.000 Medikamente auf dem Markt sind, die jenen Stoff enthalten, der für Lebensmitteln als nicht mehr sicher gilt.
Dies zu ändern, wäre für die Pharmaindustrie nicht nur mit beträchtlichen Entwicklungskosten verbunden sein – es ist eine Aufgabe, die überhaupt nicht leicht zu lösen ist.
Das Dilemma: Bei Lebensmitteln ist Titandioxid einfach verzichtbar, es hat nur eine ästhetische Funktion – bei Medikamenten laut EMA jedoch auch eine schützende: Als Überzugsmittel sichert es die Qualität und Stabilität der Wirkstoffe, schützt sie beispielsweise vor UV-Licht. Es müssten daher „andere Überlegungen zur Nutzen-Risiko-Bewertung“ gemacht werden als bei Lebensmitteln, so der BfArM-Sprecher. Doch einen potenziell krebserregenden Stoff will wohl kein Patient in seiner Pille haben, das Problem der EFSA-Einschätzung bleibt also bestehen. Erschwerend kommt hinzu: Es fehlt an Alternativen. Unter Berufung auf die Pharmaindustrie geht die Europäische Kommission davon aus, dass Titandioxid derzeit durch keinen anderen Stoff direkt ersetzt werden kann. Die Kommission will die EMA daher auch mit einer Bewertung der Umsetzbarkeit von Alternativen beauftragen – „sofern dies überhaupt möglich ist, ohne die Qualität, Sicherheit und Wirksamkeit der Arzneimittel zu beeinträchtigen“.
Die Herstellung tausender Medikamente hängt also an einem Stoff, den Behörden bei Lebensmitteln als potenziell riskant einstufen. Weder das deutsche BfArM noch die EMA oder die Europäische Kommission wollten sich in dieser vertrackten Ausgangslage positionieren, wie sie Risiken und Zukunft von Titandioxid in Medikamenten sehen. Entsprechend schwierig dürfte das Prüfverfahren werden. Die EMA deutet einen längeren Prozess an: „Dies wird ein umfangreiches Vorhaben sein, das in den kommenden Monaten diskutiert werden muss.“
Je nach Ausgang kann das Verfahren drastische Folgen für den Arzneimittelmarkt haben. Angesichts der Masse betroffener Produkte steht die Pharmaindustrie vor einer gewaltigen Herausforderung. Wie bewertet sie das Risiko für die Patienten? Wie weit ist die Forschung nach Alternativen? Mehrere Hersteller reagierten zunächst nicht auf Anfragen dazu – oder kurz angebunden, wie Pfizer. Die EFSA-Bewertung habe man „zur Kenntnis genommen“, heißt es in einer schriftlichen Stellungnahme, es folgen einige allgemeine Floskeln: Die Verwendung von Hilfsstoffen unterliege „strengen Prüfungen und Standards“, die Studienlage würde „fortwährend“ beobachtet. Für alles Weitere verwies der Konzern auf den Verband der Titandioxidhersteller. Der warnt bereits seit einiger Zeit vor weitreichenden Folgen, würde der Einsatz des Farbstoffs in Medikamenten beschränkt oder gar verboten: Neue Zulassungsverfahren für Arzneimittel könnten nötig werden, Hersteller sogar Präparate vom Markt nehmen, wenn ihnen eine Reformulierung zu teuer wäre.
Zweifel an der Sicherheit von Titandioxid bestehen bereits seit Jahren, abhängig davon, wie das Pigment aufgenommen und wie groß seine Partikel sind. Problematisch sahen Wissenschaftler vor allem kleine Nanoteilchen – und die Inhalation von Titandioxid. Unter dem Protest der Farbenindustrie, der das Pigment als „der mit Abstand wichtigste Rohstoff“ gilt, stufte die EU die Verbindung Anfang 2020 als „karzinogen beim Einatmen“ ein. Die Folge: Von Oktober 2021 an müssen bestimmte titandioxidhaltige Farbpulver einen Warnhinweis („nicht einatmen“) tragen. Auch für flüssige Farben, die gesprüht werden könnten, soll dies teilweise gelten. Als unsicher stuften Behörden auch das Einatmen von Titandioxidteilchen aus Haarsprays ein.
Als Lebensmittel-Zusatzstoff galt Titandioxid hingegen lange Zeit als unkritisch. Noch 2016 hegte die EFSA trotz bestehender Unsicherheiten und Datenlücken keine Sicherheitsbedenken. Dies änderte sich schrittweise mit einer Studie, die französische Wissenschaftler 2017 vorlegten: Sie verabreichten Ratten Titandioxid über eine Sonde sowie mit dem Trinkwasser uns stellten Veränderungen im Darm fest, die sie als krebsverdächtig einstuften. Die Ergebnisse lassen sich nicht einfach auf den Menschen übertragen, doch seit der Veröffentlichung ging es hin und her: Die EFSA sah zunächst keinen Anlass für eine Neubewertung, dagegen brachte die französischen Lebensmittelbehörde 2019 die Regierung in Paris mit einer Studienauswertung dazu, Titandioxid in Lebensmitteln vom 1. Januar 2020 an für zunächst ein Jahr zu verbieten.
Auch die EFSA prüfte schließlich neu, wertete dabei auch sämtliche neuen Studien aus und revidierte mit der im Mai 2021 veröffentlichten Stellungnahme ihre bisherige Haltung: Titandioxid könne „nicht mehr als sicher“ eingestuft werden. „Ein entscheidender Faktor für diese Schlussfolgerung ist, dass wir Genotoxizitätsbedenken nach dem Verzehr von Titandioxidpartikeln nicht ausschließen konnten. Nach oraler Aufnahme ist die Resorption von Titandioxidpartikeln zwar gering, sie können sich jedoch im Körper ansammeln“, erklärte Prof. Maged Younes, Vorsitzender des EFSA-Sachverständigengremiums für Lebensmittelzusatzstoffe und Aromastoffe. Mit anderen Worten: Wer titandioxidhaltige Lebensmittel verzehrt, muss nicht damit rechnen, akut krank zu werden – ein höheres Krebsrisiko ist jedoch nicht auszuschließen.
Problematisch bei der Aufnahme durch Schlucken gelten Titandioxidpartikel in Nanogröße. Die bräuchte die Lebensmittelindustrie zwar gar nicht – denn für die gewünschte Farb-Wirkung ist eine Lichtstreuung erforderlich, die größere Teilchen bewirken. Doch zahlreiche Laboruntersuchungen haben gezeigt, dass die Partikel bei lebensmitteltauglichem Titandioxid in unterschiedlichen Größen enthalten waren, fast immer mit einem relevanten Anteil an Nanopartikeln. Das ist nun auch das Problem der Pharmaindustrie.
Und noch eine weitere Produktgruppe rückt ins Blickfeld: Zahncreme. Viele Hersteller setzen in ihren Rezepturen ebenfalls auf Titandioxid, darunter Blend-a-med und dm – „zur Färbung“, wie es bei Marktführer Colgate ausdrücklich heißt. Nicht nur die Zähne sollen strahlend weiß werden, offenbar muss es auch die Pasta sein. Selbst verbreitete Kinderprodukte enthalten den umstrittenen Zusatz, in den Inhaltsangaben auf der Tube meist versteckt hinter dem Pigmentnamen „CI 77891“. Wie sicher es ist, darüber besteht offenbar erhebliche Unklarheit: Das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) könne derzeit „nicht beurteilen“, inwieweit die EFSA-Bewertung auf Titandioxid in Zahnpasta übertragbar sei, es lägen schlicht keine Daten vor, welche Partikelgrößen in Zahncreme zu finden sind.
Aus Sicht des BfR geht es „in erster Linie“ um die kleinen Mengen Zahncreme, die Menschen versehentlich verschlucken. Offen bleibt, ob auch der Kontakt mit der Mundschleimhaut zu Risiken führen kann. Eine norwegische Studie kam 2017 zu dem Schluss, dass Titandioxid in Nanopartikelgröße die Schleimhaut durchdringen kann. Entwarnung will keine Behörde geben – und auch hier soll jetzt intensiv geprüft werden. Deutschland werde sich „dafür einsetzen, dass der für kosmetische Mittel zuständige wissenschaftliche Ausschuss [der Europäischen Kommission, Anm. des Autors] für Verbrauchersicherheit (SCCS) die neue Bewertung der EFSA für den Lebensmittelzusatzstoff Titandioxid in Bezug auf kosmetische Mittel – insbesondere Zahnpasta – prüft“, erklärte eine Sprecherin von Bundesministerin Julia Klöckner auf Anfrage. Senkt der Ausschuss seinen Daumen, darf Titandioxid in Zahnpasta nicht mehr eingesetzt werden.
Die Hersteller hätten es hier jedoch bedeutend einfacher als die Pharmaindustrie: Sie könnten den Farbstoff – schon jetzt – einfach weglassen.
Dieser Text erschien zuerst bei BuzzfeedNews Deutschland.
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