Auch mit Hartz IV sei gesunde Ernährung bezahlbar, argumentiert die Bundesregierung in ihrer Antwort auf eine parlamentarische Anfrage und zitiert zum Beleg ein Gutachten. In dem allerdings steht das genaue Gegenteil. Eine Korrektur sei leider nicht möglich, erklärt das Bundesernährungsministerium. Wäre sie allerdings doch.
25. Oktober 2022
Die Ausführungen der Bundesregierung sind unmissverständlich: Dass eine „gesunderhaltende Ernährung“ mit Hartz IV nicht möglich sei, will sie nicht bestätigen. Einen „informierten, preisbewussten Einkauf“ vorausgesetzt, sei gesundes Essen auch mit wenig Geld „grundsätzlich“ drin. So argumentiert die Bundesregierung am 6. Oktober in ihrer Antwort auf eine parlamentarische Anfrage der Linken. Zum Beleg verweist das federführende Bundesernährungsministerium auf das Gutachten seines Wissenschaftlichen Beirats von 2020.
Allerdings lässt sich auch dieses Gutachten schwerlich missverstehen: Es belegt das glatte Gegenteil. Schon lange vor der Rekord-Inflation rechneten darin 18 namhafte Wissenschaftler vor, dass eine deutliche „Deckungslücke“ zwischen Hartz IV und den Kosten einer gesunden Ernährung besteht. Sie fordern deshalb eine „erhebliche“ Erhöhung der Regelsätze. Bisher dagegen seien zusätzliche Ressourcen wie angesparte Vermögen oder Unterstützung durch Freunde nötig, damit sich Hartz-IV-Empfänger zumindest „theoretisch“ eine gesunde Ernährung leisten können.
Harald Grethe kommentierte das süffisant: „Wir leben realweltlich, nicht theoretisch“, so der Agrarwissenschaftler. Er hatte dem Beirat vorgesessen, als dieser das Gutachten veröffentlichte. Realweltlich aber besteht aus seiner Sicht nun mal ein „materiell deutlich eingeschränkter Handlungsspielraum“ für Menschen in Armut – im Gutachten heißt es: „Auch in Deutschland gibt es armutsbedingte Mangelernährung und teils auch Hunger.“ Grethes Fazit: „Die Bundesregierung gibt den Wissenschaftlichen Beirat nicht korrekt wieder.“
Danke @martinruecker für d. Hinweis.
— Harald Grethe (@haraldgrethe) October 12, 2022
Die Bundesreg. gibt den WBAE nicht korrekt wieder.
Der WBAE schrieb nicht: „dass „gesundheitsfördernde Ernährung“ grundsätzlich „auch unter stark begrenzten Einkommensressourcen möglich“ … ist“.
„grundsätzlich“ ist nicht Wortlaut WBAE
1/8 https://t.co/Bb1hdjg1QF
Schon vor dieser Einordnung hatte Ernährungsminister Cem Özdemir in Reaktion auf Kritik an der Antwort
auf Twitter angekündigt: „Wir schauen uns das nochmal an.“ Auf Anfrage räumte sein Ministerium nun ein, das Gutachten tatsächlich falsch dargestellt zu haben. „Dieser Fehler entstand im Rahmen der Abstimmung mit den anderen beteiligten Bundesministerien“, so eine Sprecherin, hätte aber „nicht passieren dürfen“. Den Wissenschaftlichen Beirat bitte man „ausdrücklich um Entschuldigung“.
Danke für die kritische Rückmeldung. Wir schauen uns das nochmal an, auch im Hinblick darauf, ob die Aussagen Dritter zutreffend wiedergegeben wurden.
— Cem Özdemir (@cem_oezdemir) October 11, 2022
Erledigt ist das Thema damit nicht. Grethe verwies auf die Forderungen der Wissenschaftler: deutlich höhere Regelsätze, ein besseres „Monitoring zur Ernährungsarmut“ und kostenlose, qualitativ hochwertige Mittagessen in Schulen und Kitas – hinter jedem Punkt vermerkt er: „nicht umgesetzt“. Die Bundesregierung hingegen erkennt auch in den anderen Passagen ihrer Antwort an die Linksfraktion keinen akuten Handlungsbedarf: Das menschenwürdige Existenzminimum sei gesichert, „der Bedarf für Ernährung berücksichtigt“. Mit der geplanten Anhebung der Regelsätze um 12 Prozent beim neuen Bürgergeld würden die aktuellen Preissteigerungen zudem abgemildert.
Schließlich: WBAE (2020) Empfehlungen eindeutig:
— Harald Grethe (@haraldgrethe) October 12, 2022
„Regelbedarfe für die Grundsicherung anpassen“ (nicht umgesetzt)
„Monitoring zur Ernährungsarmut verbessern“ (nicht umgesetzt)
„Qualitativ hochwertige, beitragsfreie Kita- und Schulverpflegung … einführen“ (nicht umgesetzt)
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Auch damit geht die Bundesregierung auf Kollisionskurs zur wissenschaftlichen Evidenz. Gerade erst belegten zwei aktuelle Studien, dass eine angemessene Ernährung, etwa nach den Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE), mehr Geld kostet als bei Hartz IV vorgesehen. Und wie ein um 12 Prozent erhöhter Regelsatz eine Teuerung abmildern soll, die zuletzt binnen Jahresfrist bei 18,7 Prozent lag, bleibt das Geheimnis der Bundesregierung.
Die Ausführungen der Ministeriumssprecherin allerdings lassen sich auch so interpretieren, dass Özdemir durchaus etwas weitergehen würde, wenn er könnte. Der „Schwierigkeiten“, eine gesunde Ernährung „mit den derzeitigen und zukünftigen Regelsätzen“ zu gewährleisten, sei man sich durchaus bewusst, und bei der geplanten Ernährungsstrategie der Koalition sollen „Haushalte in Armut besonders berücksichtigt werden“. Das Ministerium strebe „eine bedarfsgerechte, ausgewogene und nachhaltige Ernährung für alle“ an, wie von der DGE vorgesehen. Bedarfsdeckende Regelsätze aber fordert Özdemir nicht – zuständig sei Bundessozialminister Hubertus Heil (SPD). Ina Latendorf, agrarpolitische Sprecherin der Linken, hält es für „skandalös“, wie sich die Bundesregierung beim Thema Ernährungsarmut „in Widersprüche verwickelt“. Sie fordert, die Empfehlungen der Gutachter endlich umzusetzen: „Ohne Einsicht und Anerkennung wissenschaftlicher Erkenntnisse lässt man weiter Ernährungsarmut zu.“
Weiter stehen bleiben soll auch die fehlerhafte Antwort der Bundesregierung, veröffentlicht vom Bundestag unter Drucksachen-Nummer 20/3847. „Antworten auf parlamentarische Anfragen können leider nicht nachträglich korrigiert werden“, erklärt die BMEL-Sprecherin.
Allerdings ist auch das nicht richtig. „Ist bei einer Antwort der Bundesregierung auf eine parlamentarischen Anfrage eine Ergänzung bzw. eine Korrektur erforderlich, so erfolgt die Veröffentlichung einer sogenannten Drucksache (neu)“, erläutert ein Bundestagssprecher – und hat auch ein Beispiel aus der Vergangenheit parat. Wer etwas richtigstellen will, hat also auch die Möglichkeit dazu.
Dieser Text erschien zuerst in der
Frankfurter Rundschau.
Foto: BMEL/Florian Gärtner/photothek, Montage mr – Quelle Daten: Verbraucherpreisindex Nahrungsmittel + Inflationsberichterstattung, Statistisches Bundesamt
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