Für Lebensmittel wird der krebsverdächtige Farbstoff Titandioxid gerade verboten, in Zahnpasta darf er vorerst weiter eingesetzt werden. Auf Betreiben der Kosmetiklobby zögert die EU bereits die wissenschaftliche Risikoprüfung hinaus.
11. April 2022
Wegen möglicher Gesundheitsrisiken wird der Farbstoff Titandioxid von diesem Sommer an EU-weit für Lebensmittel verboten sein. Zuckerguss und Kaugummi dürften dann nicht mehr ganz so strahlen wie bisher, denn der vor allem in Süßwaren verbreitete Zusatz gilt als „weißer“ als andere. Auch die meisten Zahnpasten enthalten Titandioxid. Ihnen darf der umstrittene Farbstoff jedoch vorerst weiter beigemischt werden, allen Bedenken zum Trotz. Die Kosmetiklobby kämpft dafür, dass dies auch so bleibt – bisher mit einigem Erfolg.
Ausgelöst hatte die Aktivitäten eine neue Risikobewertung der Europäischen Lebensmittelbehörde EFSA. Im Mai 2021 stufte sie Titandioxid als „nicht mehr sicher“ für Lebensmittel ein: Es sei nicht auszuschließen, dass der Farbstoff erbgutschädigend und krebserregend wirke. Anfang 2022 verabschiedete die EU vorsorglich das Verbot von Titandioxid in Lebensmitteln, nach sechs Monaten tritt es in Kraft.
Doch was bedeutet die EFSA-Bewertung für Zahncreme? Auch hier sorgt Titandioxid für ein strahlendes Weiß, aus Marketingsicht der Inbegriff von Sauberkeit. Ein Großteil der Pasten im deutschen Markt enthält den Farbstoff, in der Zutatenliste oft unter dem Pigmentnamen „Cl 77891“ aufgeführt. Noch im Mai 2021, kurz nach der EFSA-Veröffentlichung, kündigte eine Europäische Kommission eine Risikoprüfung für Zahnpasten an. Ihr für Kosmetikprodukte zuständiges Beratergremium, der Wissenschaftliche Ausschuss für Verbrauchersicherheit (SCCS), solle die Lage einschätzen, anschließend wolle man gemeinsam mit den EU-Mitgliedstaaten beraten, „ob auch für Zahnpasten regulatorische Maßnahmen erforderlich sind“. Auch die Bundesregierung und das Bundesinstitut für Risikobewertung sprachen sich für eine Risikobewertung durch den SCCS aus.
Seitdem ist fast ein Jahr vergangen, doch der Wissenschaftlichen Ausschuss hat mit seiner Arbeit noch nicht einmal begonnen. Voraussichtlich diesen Mai will die Europäische Kommission dem SCCS überhaupt erst das nötige Mandat zur Prüfung erteilen – es geht dabei wohlgemerkt um eine wissenschaftliche Risikoanalyse, nicht um eine Entscheidung über politische Maßnahmen. Wie ich aus Kommissionskreisen erfuhr, war es die Kosmetiklobby, die für die Vertagung sorgte.
Bei einem Arbeitsgruppentreffen von Kommission, Behörden der Mitgliedstaaten und Industrie meldete der Lobbyverband Cosmetics Europe bereits im Juni 2021 Bedenken gegenüber einer schnellen Beauftragung der wissenschaftlichen Prüfung an. Bei einem weiteren Treffen am 12. November 2021 beantragte der Verband offiziell eine Verschiebung, um erst ein eigenes „Dossier“ zur Sicherheitsfrage vorlegen zu können. Von Kommission und Mitgliedstaaten kam kein Widerspruch – die Kosmetiklobby erreichte ihr Ziel.
Auf Nachfrage bestätigt Cosmetics Europe den Vorgang. In dem Dossier wolle sich die Branche intensiv mit den Hinweisen auf eine mögliche genotoxische Wirkung befassen, so eine Sprecherin. Die Europäische Kommission wiederum ließ sich auf den Lobby-Vorstoß ein, weil sie keine „akuten“ Gesundheitsrisiken erkannte – ein Terminus, der üblicherweise verwendet wird, eine Substanz nicht unmittelbar nach dem Konsum zu einer Erkrankung führt. Doch sollte sich der Verdacht einer erbgutschädigenden oder krebserregenden Wirkung bestätigen, dürfte es für die Verbraucher zweitrangig sein, ob gesundheitliche Folgen „akut“ oder erst später eintreten.
So lässt sich das Thema auch anders betrachten: Es geht um einen Stoff, der allein aus optischen Gründen in Zahnpasta eingesetzt wird, in den Produkten also ohne Weiteres verzichtbar ist – und um relevante Zweifel an seiner Sicherheit. Zwar wird Zahnpasta nicht wie Lebensmittel verzehrt, dennoch hat die EFSA-Bewertung durchaus Relevanz für Zahnpasta. 2016 legte eine niederländische Studie nahe, dass bei Kindern das versehentliche Verschlucken von Zahnpasta wesentlich zur Titandioxidaufnahme beiträgt. Dass es dabei nur um geringe Mengen geht, ist nicht entscheidend: Beim Lebensmittelzusatzstoff ging die EFSA davon aus, dass sich der Stoff im Körper anreichern kann, eine unbedenkliche Aufnahmemenge konnte sie daher nicht benennen. Fraglich ist zudem, welche Rolle der Kontakt mit der Mundschleimhaut spielt. Eine norwegische Studie lieferte 2017 Hinweise darauf, dass Nano-Partikel von Titandioxid die Schleimhaut durchdringen können.
Cosmetics Europe wollte diese konkreten Fragen nicht kommentieren. Die Industrie sei von der Sicherheit ihrer Produkte „überzeugt“, erklärte eine Sprecherin unter Verweis auch auf individuelle Bewertungen durch die Hersteller. Diese gehen mit der Thematik ganz unterschiedlich um. Die Drogeriemarktkette dm etwa arbeitet längst an einer Umstellung aller Zahnpasten der Eigenmarke Dontodent auf Titandioxid-freie Rezepturen. „Noch im ersten Halbjahr 2022 wird diese Umstellung abgeschlossen sein“, so dm-Geschäftsführerin Kerstin Erbe. Auch der Pharmakonzern GSK hat vor einigen Monaten Zahncremes der Marke Parodontax überarbeitet – und den umstrittenen Farbstoff neu in bisher titandioxid-freie Formeln aufgenommen. Statt dunkelrosa sind die betroffenen Pasten nun hellrosa. Um Titandioxid nicht nur aus Lebensmitteln, sondern auch aus Zahnpasten zu verbannen, bedürfte es wohl ebenfalls einer politischen Regulierung. Dazu für die müsste erst einmal eine Sicherheitsbewertung vorliegen.
Der farbliche Effekt: Die alte Rezeptur machte eine dunkelrosafarbene Zahncreme, die neue eine hellrosafarbene. Dafür potenzielle Gesundheitsrisiken für die Verbaucher:innen in Kauf nehmen, @GSK_DE ? [4/5] pic.twitter.com/3Ew9qdkEz6
— Martin Rücker (@martinruecker) August 2, 2021
Dieser Text erschien zunächst in der Frankfurter Rundschau.
Das Foto zeigt die farblichen Unterschiede der alten Rezeptur einer Parodontax-Zahncreme ohne Titandioxid zur neuen Rezeptur mit Titandioxid.
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