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Wenn Ramschpreise noch zu teuer sind

Martin Rücker

Ein Land ohne Ernährungssicherheit

Der neue Landwirtschaftsminister Cem Özdemir will zurecht die Einkommen von Bauern verbessern – was er dabei nicht übersehen darf: Die bisherige Sozialpolitik sorgt dafür, dass für viele Menschen Ramschpreise schon jetzt zu teuer sind. Das hat Folgen, vor allem für Kinder. 

2. Februar 2022

Cem Özdemir hat „Ramschpreisen“ bei Lebensmitteln den Kampf angesagt. Zurecht will der Landwirtschaftsminister die Lage der oft am Rande der Existenz wirtschaftenden Bauern verbessern. Es folgte der prompte Aufschrei der Sozialverbände und eine Antrittsrede im Bundestag, in der sich Özdemir bemühte, die sozialpolitische Komponente der Ernährungspolitik ebenso deutlich zu adressieren wie die Nöte der Landwirte.


Offen blieb, ob sich der Minister bereits in voller Dimension gewahr wurde, wie viele Menschen auf „Ramschpreise“ angewiesen sind. Mehr noch: Für wie viele selbst diese bereits zu hoch sind.


»Manifestes Entwicklungsrisiko« für Kinder


„Auch in Deutschland gibt es armutsbedingte Mangelernährung und teils auch Hunger“, notierte der Wissenschaftliche Beirat des Agrarministeriums vor eineinhalb Jahren noch für Vorgängerin Julia Klöckner. Während sie solche Probleme ausschließlich in Entwicklungsländern zu verorten schien, wiesen ihre Berater auf einen „verborgenen Hunger“ mitten im reichen Deutschland hin: Einen Hunger, der nicht sichtbar ist, weil es den Betroffenen nicht an Kalorien fehlt (manchmal im Gegenteil), aber an wichtigen Vitaminen und Mineralien. Für Kinder sei dies ein „manifestes Entwicklungsrisiko“, das „kognitive und physische Beeinträchtigungen“ zur Folge haben könne.


Tatsächlich häufen sich Indizien, dass je nach Schätzung ein Anteil von 5, 7 oder mehr Prozent der Menschen in Deutschland in Ernährungsarmut lebt: Ihr Einkommen reicht nicht für eine gesunde Lebensmittelauswahl. Staatliche Studien des Robert Koch- und des Max Rubner-Instituts zeigen, dass Einkommensschwache weniger Obst und Gemüse verzehren und dass Kinder bei einigen wichtigen Nährstoffen die empfohlenen Aufnahmemengen unterschreiten. Darunter gerade jene, die zentral sind für eine gesunde körperliche wie geistige Entwicklung. Es liegt nahe, dass die Unterversorgung bei Kindern aus einkommensschwachen Familien ausgeprägter ist.  


Die deutlichste Warnung, dass dies Folgen hat, lieferte eine Langzeituntersuchung, für die Wissenschaftler über Jahre hinweg die Daten von mehr als 250.000 Schuleingangsuntersuchungen aus Brandenburg auswerteten. Kinder aus schlechter situierten Familien waren dabei im Schnitt signifikant kleiner und kognitiv weniger weit entwickelt als Gleichaltrige. 2020 wiesen Soziologen zudem nach, dass – abhängig vom sozioökonomischen Status der Eltern – bereits unter sieben Monate alten Säuglingen deutliche Unterschiede in der Leistungsfähigkeit bestanden. Die Schere öffnet sich also nicht erst in der Schule, sondern lange zuvor, in einem Zeitfenster, in dem die Nahrungsversorgung eine besonders prägende Rolle für die Entwicklung spielt.


Eine gesunde Ernährung ist teurer – und nur mit Hartz IV nicht zu bezahlen


Sicher: Eine ausgewogene Ernährung scheitert nicht nur am Budget. Doch wissenschaftlich evident ist, dass eine gesundheitsfördernde Lebensmittelauswahl mit viel frischem Obst und Gemüse teurer ist als kaloriendichte Kost wie Nudeln und Fertiggerichte, die schnell satt machen, dabei aber nur wenige Vitamine und Mineralien enthalten. Belegt ist zudem, dass nur mit Hartz IV eine gesunde Ernährung nicht zu bezahlen ist. Während die Regelsätze heute für einen Erwachsenen rund 5 Euro am Tag für Nahrung und alkoholfreie Getränke vorsehen, bezifferte eine Untersuchung die Kosten einer empfehlenswerten „Vollwertkost“ auf gut 7,50 Euro – und zwar bereits vor 20 Jahren, auf Basis der damaligen, niedrigeren Preise.


Angesichts der Bedeutung für die Lebenschancen von Kindern ist es ein geradezu zynischer Fehler im System, dass der Geldbedarf für eine gesunde Ernährung bei der Festlegung der Hartz-IV-Sätze schlichtweg keine Rolle spielt. Ermittelt wird allein, was Einkommensschwache in der Vergangenheit für Essen ausgaben. War das zu wenig für ein gesundes Leben, wird es eben auch in Zukunft zu wenig bleiben.


Das hält eine regelrechte Armutsspirale in Gang. Können Menschen ihre Kinder nicht ausgewogen ernähren, tragen diese ein höheres Risiko für Mangelernährung. Diese verringert ihre Chancen auf gesunde Entwicklung und Bildungserfolge und erhöht so die Wahrscheinlichkeit, auch als Erwachsene in Armut leben zu müssen – und ihre eigenen Kinder nicht gesund ernähren können. Eine Politik, die dies ignoriert, negiert das Menschenrecht auf Nahrung. Zu dessen Kernbestandteil gehört die Ernährungssicherheit, die nur dann erfüllt ist, wenn alle Menschen zu jeder Zeit die Möglichkeit haben, sich ausreichend bedarfsgerechte Nahrung zu beschaffen. Dieser offiziellen Definition folgend, ist Deutschland ein Land ohne Ernährungssicherheit.


Ernährungspolitik gemeinsam mit dem Sozialminister gestalten


Freilich kann (und sollte) ein Staat nicht dafür sorgen, dass alle Menschen sich und ihre Kinder auch wirklich gesund ernähren. Doch er muss die Voraussetzungen schaffen, dass sie es können. Statt dies zu tun, verschärft er die Problematik für die Betroffenen, vor allem übrigen alleinerziehende Mütter: Als der Bundestag die Anhebung der Hartz-IV-Sätze um ganze 0,76 Prozent zum Jahreswechsel beschloss, waren die Lebensmittelpreise gerade binnen 12 Monaten um die sechsfache Rate angestiegen, vor allem auch Obst und Gemüse deutlich teurer geworden. Cem Özdemir sollte dies im Blick haben, wenn er zugunsten der berechtigten Interessen von Bauern in die Preisdynamik eingreift. Eine Ernährungs- und Agrarpolitik, die niemanden zurücklässt, muss umfassend – heißt: ressortübergreifend – gestaltet sein. Özdemir braucht dafür auch den Sozialminister, der noch in der vergangenen Legislaturperiode seine Augen vor dem Problem Ernährungsarmut verschlossen hat.


Dieser Text erschien zunächst in der Welt. Um das Thema Ernährungsarmut geht es ausführlich auch in meinem Buch »Ihr macht uns krank«, das am 27. Januar 2022 im Econ-Verlag erschienen ist.  

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