22. März 2023
Wer sich fragt, weshalb Lebensmittelbehörden auch im Krisenfall mitunter eher zurückhaltend gegenüber Unternehmen agieren, wird zwangsläufig mit einem fast 40 Jahre alten Fall konfrontiert: Birkel. Der Name des Nudelfabrikanten geistert bis heute durch die Amtsstuben, wie eine Mahnung, es mit dem Verbraucherschutz bloß nicht zu übertreiben.
Es war 1985, als das Regierungspräsidium Stuttgart öffentlich vor dem Verzehr „mikrobiell verseuchter“ Lebensmittel gewarnt hatte, darunter eben auch Nudeln des schwäbischen Herstellers. Firmenchef Klaus Birkel dementierte und wehrte sich vor Gericht. Mit Erfolg: In einem Vergleich einigte er sich einige Jahre später mit dem Land Baden-Württemberg auf eine Schadenersatzzahlung in Millionenhöhe.
Dass rund 20 Jahre nach der „Flüssigei-Affäre“ Recherchen des Magazins „Stern“ nahelegten, dass Birkel doch wissentlich nicht verkehrsfähige Eier verwendet hatte – die öffentliche Warnung der Behörden demnach also zurecht ergangen wäre – spielte keine Rolle mehr. Präsent war die Millionenzahlung an den Unternehmer. Seitdem spukte die Sorge vor Schadenersatzklagen zuverlässig durch die Köpfe vieler Verantwortlicher in den Behörden. Nur langsam (und keineswegs überall) verblasste die Erinnerung an diesen Fall. Für den Verbraucherschutz war das eine gute Nachricht, denn er ist auf Behörden angewiesen, die aus einer selbstbewussten Position heraus auftreten können.
Zwei aktuelle Entwicklungen aber sind dazu geeignet, die alten Geister wieder zu wecken. Entwicklungen, die einen ähnlich anhaltenden Effekt haben könnten wie seinerzeit der Fall Birkel – und die amtliche Lebensmittelüberwachung auf lange Sicht zu schwächen drohen.
Da ist zum einen das Agieren der Staatsanwaltschaft in der Aufarbeitung des Listerienfalls um die hessische Wurstfabrik Wilke. Gut drei Jahre nach Bekanntwerden des Skandals verbreitete sich in diesem Februar die Nachricht, dass die Staatsanwaltschaft Kassel Anklage wegen fahrlässiger Tötung erhebt: gegen den früheren Geschäftsführer des insolventen Unternehmens, gegen seine Vertreterin und seinen Produktionsleiter. Medial keine Beachtung fand hingegen, was die Staatsanwaltschaft damit auch entschied: Dass sie nämlich nicht gegen Vertreter der Überwachungsbehörden tätig wird. Was höchstens auf den ersten Blick eine Stärkung ihrer Position bedeutet.
Fahrlässige Tötung in elf Fällen, fahrlässige Körperverletzung in sieben Fällen werfen die Staatsanwälte den Wilke-Managern vor. Niemand lehnt sich besonders weit aus dem Fenster, der behauptet: Behörden hatten ihren Anteil an dem Skandal. Im für die Kontrollen bei Wilke zuständigen Landkreis Waldeck-Frankenberg fehlten in ganz besonderem Maße bereits originäre Voraussetzungen für eine effektive Lebensmittelüberwachung. Das Veterinäramt war unterbesetzt, es hielt seine Kontrollvorgaben nicht ein (im Allgemeinen wie im Konkreten, beim Unternehmen Wilke), und zum Dezernenten mit Zuständigkeit für die Lebensmittelüberwachung hatte der Landrat einen Mann gemacht, der mit seinem eigenen Betrieb offenbar selbst der Kontrolle dieses Amtes unterlag und der überdies mit Wilke geschäftlich verbunden war. Die Maßgaben des EU- und des nationalen Rechts für eine unabhängige, angemessen ausgestattete Überwachung waren nie erfüllt.
Schwerer noch wiegen Versäumnisse bei der Kontrolltätigkeit in der Wilke-Fabrik. Bereits in den Jahren vor Bekanntwerden des Skandals gab es Listeriennachweise und andere Auffälligkeiten (wie eine fehlende Schwarz-Weiß-Trennung); die geradezu grotesken baulichen Mängel in der Fabrik, die erst öffentlich bekannt wurden, als es für die Opfer zu spät war, konnten ebenfalls nicht über Nacht aufgetreten sein. Das Veterinäramt beschränkte sich auf die Dokumentation von Mängeln, versäumte es aber, die Beseitigung der Mängel durchzusetzen. Später führten Listeriennachweise zu „stillen“ Warenrücknahmen, aber nicht zum öffentlichen Rückruf, auf eine Anordnung verzichtete man. Selbst als eine Beteiligung Wilkes an dem behördlich bekannten Listerioseausbruch längst im Raum stand, unterließ der Landkreis zunächst die Anordnung von Rückrufen oder einer Betriebsschließung – und besserte später nicht nach, als mit Bekanntwerden des Skandals endlich zwar ein Rückruf erging, dieser aber so lückenhaft geriet, dass dieser den Verbrauchern keine sichere Identifikation der betroffenen Produkte ermöglichte.
Wenn bei alledem Staatsanwälte strafrechtliche Konsequenzen noch nicht einmal in Betracht ziehen, geht davon ein schwieriges Signal aus: Selbst ein maximal mangelhafter Verbraucherschutz hat jedenfalls keine persönlichen Konsequenzen für die Entscheidungsträger in den Behörden.
Fatal ist das in Kombination mit der zweiten aktuellen Entwicklung, deren Botschaft (wie bei Birkel) lautet: Die Beamten sollten sich bloß nicht zu sehr mit den Unternehmen anlegen. Gemeint ist ein Urteil im Fall des insolventen Schinkenspezialisten Sieber – auch hier ging es um Listerien und mehrere Todesfälle.
Mit seiner Entscheidung vom 31. Januar bestätigte das OLG München (Az 1 U 1316/21) im Kern die Rechtsauffassung des Insolvenzverwalters der Großmetzgerei, der nun aufgrund der Informationspolitik der Behörden Schadenersatz zusteht. Über die genaue Höhe muss das Landgericht entscheiden, dass in der Vorinstanz dem Freistaat Bayern noch Recht gegeben hatte (Az 15 O 18592/17).
Kern der Auseinandersetzung ist eine behördliche Warnung aus dem Mai 2016. Das bayerische Verbraucherschutzministerium riet damals in einer Pressemitteilung umfassend vor dem Verzehr von Sieber-Produkten ab, zudem ordnete es einen Rückruf an. Dass eine öffentliche Warnung berechtigt war, bestätigte jetzt das OLG. Nach Auffassung der Richter hätte das Ministerium von seinen Maßnahmen jedoch jene Sieber-Produkte ausnehmen müssen, die offenbar bereits verpackt nachpasteurisiert worden waren, womit bei diesen eine Listerienbelastung auszuschließen war.
Aus Sicht des Verbraucherschutzes ist das eine katastrophale Fehlentscheidung der Richter, die sie in ihrer Urteilsbegründung auch nur wenig plausibel begründen. Denn wer sich mit den Abläufen des Falles beschäftigt und die Entscheidungsgrundlage berücksichtigt, die sich dem bayerischen Ministerium seinerzeit bot, der erkennt: Allein das Unternehmen verfügte über die nötigen Informationen, einen derart passgenauen Rückruf samt öffentlicher Kommunikation durchzuführen, handelte aber gerade nicht konsequent im Sinne des Verbraucherschutzes (es würde sich lohnen, die Entscheidungen der Sieber-Verantwortlichen auch strafrechtlich näher unter die Lupe zu nehmen). Die Zusammenarbeit mit den Behörden lief offenbar alles andere als reibungsfrei. Im Sinne des vorsorgenden Gesundheitsschutzes und mangels gesicherter Kenntnis über die Nachpasteurisierungsprozesse musste das bayerische Ministerium bei einer Kontamination der Betriebsstätte also zunächst annehmen, dass von allen Sieber-Produkten eine potenzielle Gefahr ausgehen konnte. Den Behörden des Freistaates lagen ja die Laboranalysen vor, aus denen eine Kontamination von Sieber-Waren mit dem ausbruch-relevanten Listerienstamm hervorging, die sich auch nicht auf ein einzelnes Produkt oder eine bestimmte Produktionslinie eingrenzen ließ. Jedes Zuwarten hätte bedeutet, Erkrankungen und Todesfälle weiter potenziell in Kauf zu nehmen.
Genau dies aber fordert das OLG letztlich in seinem (Miss-)Verständnis der Abläufe und seiner Auslegung des Rechts: Selbst in der akuten Krisensituation sieht es die Behörde in der Pflicht, unabhängig vom Kooperationswillen des Unternehmens erst die Details der Produktionsabläufe zu ermitteln, bevor es die Öffentlichkeit informiert. Falls Behörden künftig aus Angst vor Schadenersatzansprüchen so agieren, dürfte dies zwangsläufig Erkrankungsfälle und Schlimmeres zur Folge haben.
Nimmt man beides zusammen – die Aufarbeitung des Wilke- wie des Sieber-Falles –, so droht die rechtliche und psychologische Position von Lebensmittelbehörden, die konsequent im Sinne des Gesundheitsschutzes handeln willen, geschwächt zu werden wie historisch wohl nur infolge des Birkel-Skandals. Einerseits fehlt den Entscheidungsträgern in den Ämtern der Druck, den die Furcht vor strafrechtlichen Konsequenzen im Falle von Entscheidungen gegen Verbraucherschutzinteressen entfalten könnte. Andererseits besteht ein massiver Druck durch die drohenden juristischen Konsequenzen für eine Behörde, wenn sie die Interessen des Unternehmens dem Gesundheitsschutz nachordnet. Für die Lebensmittelsicherheit sind das keine guten Nachrichten.
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