25. März 2023
Der Mönchengladbacher zog dagegen vor Gericht. Es waren die Sommerferien 2019, und Wasilewski wollte seinen drei Söhne zum Schulstart unbedingt alles beschaffen, was sie für den Unterricht benötigten. Glücklicherweise brauchte auch das Sozialgericht Düsseldorf nicht lang: Nach wenigen Tagen verdonnerte es das Jobcenter dazu, die insgesamt 96,94 Euro auszuzahlen. Noch in ihrer Stellungnahme ans Gericht hatte sich die Behörde dagegen gesträubt: „Fehlende Schulbücher“, schrieb sie, „führen nicht zu einer existenziellen Notlage“, außerdem hätte die Familie den Bedarf „ansparen“ müssen.
Was allerdings nicht so einfach ist mit einem Regelsatz, der für jedes Kind deutlich weniger als zwei Euro im Monat für Bildung vorsieht.
Gerade, wenn es um seine Söhne geht, hat Thomas Wasilewski inzwischen einige Erfahrung mit der Sozialbürokratie gesammelt. Viele Jahre hat der 59-Jährige als EDV-, Groß- und Außenhandelskaufmann gearbeitet, nichts deutete auf eine Armutskarriere hin. Dann folgten mehrere Herzinfarkte und eine lange Krankheitsgeschichte. Seit zehn Jahren nun ist Wasilewski erwerbsunfähig. Weil die Gesundheit auch bei seiner Frau nur sehr eingeschränkte Arbeitszeiten zulässt und der älteste Sohn als Auszubildender nur wenig verdient, reichen Rente und Arbeitseinkommen zum Leben nicht aus: Die Wasilewskis stocken auf, sind angewiesen auf das Bürgergeld.
Die Söhne – 15, 17 und 19 Jahre alt – sind damit drei der 1,9 Millionen Kinder und Jugendlichen in Deutschland, deren Familien Sozialleistungen beziehen. Das ist die eine Zählweise, die herangezogen wird, um Armut zu beziffern. Nach der anderen Berechnung gilt jedes fünfte Kind in Deutschland als „armutsgefährdet“, lebt also in einem Haushalt, das mit weniger als 60 Prozent des Durchschnittseinkommens auskommen muss. Auf 2,9 Millionen Kinder und Jugendliche trifft das zu, ergab eine Auswertung der Bertelsmann Stiftung. Zuletzt stieg diese relative Kinderarmut durch den Zuzug der aus der Ukraine geflüchteten Kinder an, ohne diesen Effekt verharrte sie seit Jahren auf ähnlich hohem Niveau.
Besonders häufig betrifft Armut Kinder Alleinerziehender oder in Familien mit vielen Geschwistern – wie den Wasilewskis. Der Nachwuchs soll von der Armut möglichst wenig spüren. „Wir Eltern haben alle persönlichen Wünsche zurückgestellt und versuchen, dass die Kinder irgendwie am gesellschaftlichen Leben teilhaben können“, sagt der Vater. Dafür muss sich die Familie strecken. Aus dem Bildungs- und Teilhabepaket erhält sie für jedes Kind 15 Euro im Monat, um Aktivitäten zu ermöglichen. Das reicht nicht einmal, um die Beiträge für den Sportverein oder ein Fitnessstudio zu bezahlen. „Solche Ausgaben müssen wir uns vom Mund absparen“, so Wasilewski.
Und auch der Schulbedarf bedeutet für die Familie einen regelmäßigen Kampf. Im laufenden Schuljahr drehte er sich wieder einmal um ein Buch: „Das Herz eines Boxers“, ein Theaterstück für Jugendliche. Der jüngste Sohn musste es für den Deutschunterricht besorgen. Diesmal bestritt das Jobcenter den Anspruch auf Kostenübernahme zwar nicht. Doch bevor es die 7,95 Euro auszahlte, musste erst die Deutschlehrerin dem Amt bescheinigen, dass „Das Herz des Boxers“ wirklich für die Schule – konkret: für die Unterrichtseinheit „Ein modernes Drama untersuchen“, wie sie ausführte – gefordert ist. „Was meinen Sie, wie peinlich es meinem Sohn ist, deswegen zur Lehrerin zu gehen?“, sagt Wasilewski. Auch dies wohl: ein modernes Drama.
Schambehaftete Situationen ziehen sich für Armutsbetroffene durch den Alltag. Im vergangenen Jahr ermittelte das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), dass Kinder ein Viertel aller Tafelnutzer ausmachten, weitere 28 Prozent entstammten ihrer Elterngeneration. Die DIW-Forscher Markus Grabka und Jürgen Schupp fordern eine zügige Einführung der Kindergrundsicherung, um „Kinderarmut wirksam zu reduzieren und Eltern den Gang zur Tafel zu ersparen“.
Doch warum leben in unserem so reichen Land überhaupt so viele Kinder in Armut? Die einfache Antwort lautet: Weil ihre Eltern arm sind – arbeitslos, arbeitsunfähig, alleinerziehend oder in schlechtbezahlten Jobs.
Die ausführlichere Antwort führt hinein in ein Dickicht an sozial- und familienpolitischen Leistungen, die eines bislang nicht vermögen: Armut zu bekämpfen und Kinder in eine etwas entspanntere Situation zu bringen.
Was auch dem Misstrauen politisch Verantwortlicher gegenüber Eltern zu tun hat, wie es die Debatte über eine Kindergrundsicherung wieder zu Tage fördert. In einem Gastbeitrag in der Wirtschaftswoche warnte der FDP-Finanzpolitiker Markus Herbrand, „dass Eltern das zusätzliche Geld einfach für ihre eigenen Bedürfnisse wie beispielsweise Alkohol oder Zigaretten verwenden“ könnten. Mehr Geld für Arme sieht nicht nur er deshalb kritisch.
Was dabei untergeht: Zwar wartet der Staat mit 150 familienpolitischen Leistungen auf – um den „Bedarf“ der Kinder und den Ausgleich von Nachteilen aber geht es, wenn überhaupt, nachrangig. Beispiel Kindergeld: Zum Jahreswechsel stieg es für die ersten beiden Kinder von 219 auf 250 Euro an. Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) gab sich erklärtermaßen „stolz“, „die größte Kindergelderhöhung“ seit fast 30 Jahren durchgesetzt zu haben. Nur: Den Bürgergeld-Familien nutzt das nichts – das Kindergeld wird voll auf die Sozialleistungen angerechnet. Bei hohen Einkommen hingegen greifen die steuerlichen Kinderfreibeträge, von denen Topverdiener stärker profitieren als Geringverdiener vom Kindergeld.
Wie hoch die Regelsätze beim Bürgergeldes sind, leitet sich wiederum von der Einkommens- und Verbraucherstichprobe ab, für die untere Einkommensschichten alle fünf Jahre nach ihren Konsumausgaben befragt werden. Der Regelsatz orientiert sich damit also gar nicht am „Bedarf“ der Menschen, sondern an den tatsächlichen Ausgaben einer Gruppe, deren Teilhabemöglichkeiten bereits eingeschränkt sind. Die Antworten bei der Befragung geben zudem ausschließlich Erwachsene. Fehlt ihnen der Überblick, wofür ihre Kinder beim Treffen mit Freunden Geld ausgeben, was sie in Technik oder Spiele investieren, so werden diese Ausgaben bei der Regelsatzberechnung auch nicht berücksichtigt – Pech gehabt.
Das von Sozialverbänden getragene Bündnis Kindergrundsicherung bezeichnet Kinderarmut als „Entwicklungsrisiko“ mit gravierenden Folgen. Armutsbetroffenen Kindern fehle ein gleichberechtigter Zugang zu Bildung und zu Freizeitaktivitäten, ihre Chancen auf eine gesunde Entwicklung sind geringer. Finanznöte belasten Eltern, die Mittel reichen nicht für eine gesunde Ernährung – viele Faktoren tragen dazu bei, dass in soziologischen Studien Babys aus Familien mit niedrigem sozioökonomischen Status schon im Altern von wenigen Monaten leistungsmäßig abfallen. Bei Schuleingangsuntersuchungen sind Kinder aus geschwisterreichen Familien oder von arbeitslosen Eltern kleiner, weniger gesund und hinken bei den Sprachfähigkeiten Gleichaltrigen hinterher. Mit 15 liegen sie bei den PISA-Tests dann mehrere Schuljahre hinter Kindern aus besser situierten Familien. Hinzu kommen Ausgrenzung und Stigmatisierung. In einem stillen Moment haben auch die Söhne von Thomas Wasilewski zu Hause erzählt, was sie sich in der Schule so anhören dürfen: „Dein Vater ist ´ne faule Sau“, zum Beispiel. „Guck, dass du mal arbeiten gehst und nicht auch so wirst.“
Doch zurück zu Alkohol und Zigaretten. Würden armutsbetroffene Eltern mehr Geld dafür ausgeben statt für die Kinder? „Diese Fälle kommen sicher vor“, heißt es in einer Untersuchung des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) und der Bertelsmann Stiftung von 2018, „sie erhalten jedoch – weil sie plakativ sind und sich leicht medial zuspitzen lassen – möglicherweise mehr Aufmerksamkeit, als sie es verdienen.“ Bei ihrer Untersuchung widerlegten die Autoren, die Aufschläge aufs Kindergeld der jüngeren Jahre in mehr Zigaretten und Alkohol oder neue Fernseher investiert wurden.
Ein Langzeitexperiment in den USA, das Forscher mehrerer Universitäten und Disziplinen unter dem Titel Baby’s First Years durchführen, bestätigt dies. In ihrem Versuch zahlen sie armutsbetroffenen Familien ab der Geburt eines Kindes jeden Monat 333 Dollar auf das Familieneinkommen drauf – ohne Bedingung, wie sie es zu verwenden haben. Als Kontrollgruppe dienen Familien, die lediglich 20 Dollar erhalten. Bereits nach einem Jahr maßen Neurowissenschaftler, dass sich die Gehirne der Kinder in der Versuchsgruppe signifikant besser entwickelten. An größeren Glotzen und mehr Kippen kann das kaum gelegen haben – und tatsächlich zeigt eine erste Auswertung, dass die Familien ihr zusätzliches Budget nicht in Suchtmittel, sondern in Kinderspielsachen und Bücher investierten.
Für Deutschland ermittelten Bertelsmann Stiftung und ZEW, dass armutsgefährdete Haushalte in Relation zu verfügbarem Einkommen und übrigen Konsumausgaben genauso viel Geld für die Bildung ihrer Kinder verwendeten als einkommensstärkere Eltern. Auch das deutet darauf hin, dass kinderbezogene staatliche Leistungen durchaus effizient sein können. Ineffizient, auch das hält die Studie fest, ist eher der Staat. Beispiel: „Beim Bildungs- und Teilhabepaket kommen bis zu 30 Prozent des Geldes nicht bei den Kindern an, sondern fließen in die Personal- und Sachkosten der Verwaltung.“
Geht es einmal voran, dann allenfalls ein Schrittchen. Als im Lockdown 2020 auch die Schulen in Mönchengladbach schlossen, hatte sich Thomas Wasilewski noch um Computer bemüht, damit seine Jungs am digital organisierten Unterricht teilnehmen konnten. Die Kosten dafür lehnte das Jobcenter ab – weil die Kinder doch bereits Handys hätten. „Damit machen sie aber keine Hausaufgaben“, ärgert sich Wasilewski. Am Ende bekam die Familie Computer von einem Fremden geschenkt. Im laufenden Schuljahr aber ging es wieder um Geräte. Neu ist: Es gibt sie von der Schule. iPads zum Ausleihen, für Wasilewskis Jüngsten verpflichtend, denn nur mit diesen Geräten darf er sich ins schuleigene WLAN einwählen.
Erledigt sind die Probleme damit nicht. Denn kommt das Gerät zu schaden, muss Wasilewski dafür zahlen, bis zu 800 Euro. „Der Abschluss einer Versicherung wird empfohlen“, heißt es im Leihvertrag unter dem Logo des nordrhein-westfälischen Schulministeriums.
Wovon er die 60 Euro für die Versicherung im Jahr bezahlen soll, steht in dem Text nicht. Von einem Amt wird das Geld jedenfalls nicht bekommen.
Dieser Text erschien zuerst in der Wochenzeitung
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Freitag. Foto: Pixabay/Rustem Gabdullin
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