20. Januar 2024
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Nach Angaben des ifo-Instituts verzeichnete Deutschland in den Corona-Jahren 2020 bis 2022 insgesamt rund 180.000 Todesfälle „zu viel“. Auch 2023 lag die Sterberate zumindest in einigen Monaten über den Erwartungen, wie das Statistische Bundesamt mitteilte. Die Rede ist deshalb von Übersterblichkeit.
Wie hoch genau die Übersterblichkeit zu welchem Zeitpunkt lag, darin unterscheiden sich die Angaben. Unstrittig aber ist: 2022 und zum Teil auch 2023 verstarben deutlich mehr Menschen als angenommen – so viele, dass die Ausschläge nicht allein durch Todesfälle im Zusammenhang mit einer Corona-Infektion zu begründen sind.
Die Ursache liege in der COVID-19-Impfung: Diese These hält sich seit Monaten in der öffentlichen Debatte, vertreten bei weitem nicht nur von radikalen Impfgegner:innen. Den vermeintlichen Beleg lieferte eine Studie des Regensburger Psychologen Christof Kuhbandner und des Osnabrücker Mathematikers Matthias Reitzner, der zufolge Übersterblichkeit und Impfkampagne im zeitlichen Zusammenhang stehen.
Statistiker kritisierten die Arbeit. In einer gemeinsamen Stellungnahme distanzierten sich Dekan, Forschungsdekan und Prodekan der humanwissenschaftlichen Fakultät Kuhbandners von Aussagen, „die einen Zusammenhang zwischen Covid-19-Schutzimpfungen und Übersterblichkeit suggerieren“. Dennoch taucht die These als „ungeheuerlicher Verdacht“ regelmäßig wieder in Medien und sozialen Netzwerken auf. Die Hintergründe der Debatte zeigen allerdings: So einfach, wie entsprechende Berichte nahelegen, ist es nicht.
Um die „überzähligen“ Todesfälle zu beziffern, glich das ifo-Institut die Sterbezahlen eines Jahres mit dem Mittelwert der vier Vor-Corona-Jahre ab und bereinigte seine Rechnung um Einflussfaktoren wie die Veränderungen in der Altersstruktur der Bevölkerung und in der Lebenserwartung. „Übersterblichkeit“ ist immer Ergebnis des Abgleichs von tatsächlichen Sterbezahlen mit den ursprünglich erwarteten – was naturgemäß voller Tücken steckt.
Ein Beispiel: Verlöre Borussia Dortmund eine Bundesligapartie gegen den FC Bayern nur mit 0:2, könnten die leidgeprüften BVB-Fans enttäuscht sein – oder erleichtert, weil die Niederlage nicht allzu krachend ausfiel. Das Spiel lief „besser als erwartet“: eine Über-Performance also. Die Punkte blieben freilich in München, daran könnte auch die wohlwollende Sicht nichts ausrichten.
Ähnliche Schwierigkeiten bereitet das Konzept der Übersterblichkeit. Nicht alle Statistiker:innen errechnen ihre „Erwartung“ auf Basis derselben Annahmen, die das ifo-Institut getroffen hat. Manche verzichteten auch auf eine Methode, um natürliche Effekte der Alterung, Zu- und Abwanderung einzukalkulieren. Von all diesen Faktoren aber hängt ab, ob die eine feststehende Größe, die absoluten Sterbezahl, hoch oder niedrig erscheint. Das macht die Einordnung von Angaben zur Übersterblichkeit so schwer – und erklärt, weshalb abweichende Werte kursieren.
Die Unsicherheiten beginnen bereits bei der Frage, wann die Übersterblichkeit in der Pandemiezeit begann. Mit der Impfkampagne? Nein, so einfach ist nicht.
Richtig ist bei allen unterschiedlichen Berechnungsmethoden: Im Gesamtjahr 2020 lagen die Sterbezahlen Corona zum Trotz nur knapp über den Erwartungen. Statistiker vermuten, dass nicht nur eine heftige Grippewelle in den Vorjahren die erwarteten Todesfälle beeinflusst, sondern Pandemiemaßnahmen dazu geführt haben könnten, erwartete Sterbefälle durch Influenza und andere Erreger zu verhindern.
In Bezug auf die Impfung ist ein Blick auf kleinteiligere Zeiträume interessant. Dem Statistischen Bundesamt zufolge kam es nämlich bereits Mitte 2020 und damit lange vor der ersten Impfung zu Übersterblichkeit. Anfang 2021, als zunehmend Menschen sich impfen ließen, starben dagegen zunächst sogar weniger Menschen als kalkuliert. Auch hier gilt einschränkend: Mit anderen Berechnungsmethoden können andere Statistiker zu abweichenden Ergebnissen kommen. Fest steht aber: Wer es als gesicherten Fakt präsentiert, dass die Übersterblichkeit im zeitlichen Zusammenhang mit der Impfkampagne steht, liegt definitiv falsch.
Je nach Methodik zeigen manche Untersuchungen für bestimmte Zeiträume, dass die Zahl der Sterbefälle und die Entwicklung der Impfquote anscheinend korrelieren. Einen Zusammenhang zwischen Impfung und Todesfällen würde allerdings auch ein solch analoger Verlauf nicht belegen.
Statistiken zufolge entwickelte sich jahrelang auch die Zahl der Menschen, die nach dem Sturz aus einem Fischerboot ertrinken, parallel zur Zahl der Hochzeiten im US-Bundesstaat Kentucky – während die Scheidungsrate in Maine gleichzeitig zum Pro-Kopf-Verbrauch von Margarine anstieg oder abfiel. Beispiele, die daran erinnern: Korrelation und Kausalität sind zweierlei. Eine Heirat macht nicht zwingend glücklich, führt aber auch nicht direkt zum Ertrinken – und Margarine dürfte eher in Ausnahmefällen ein Scheidungsgrund sein.
Statistische Daten sind schlichtweg nicht geeignet, Ursachen zu ergründen, und schon gar nicht allein. Die Daten zur Übersterblichkeit können einen Impuls geben, genauer hinzusehen – sie machen aufmerksam, aber sie erklären nichts. Um einen kausalen Zusammenhang zur Impfung zu ergründen, wären aussagekräftige Individualdaten vonnöten, in diesem Fall zu den Todesursachen.
Zu Recht ließe sich einwenden, dass die Todesscheine gerade in Bezug auf etwaige Impffolgen vielleicht nicht mit verlässlichen Daten aufwarten. Weil dies so ist, bleibt nur, Unsicherheiten zu akzeptieren – und die Thesen auf Plausibilität abzuklopfen.
Ideen, wie die hohe Übersterblichkeit in 2022 zustande gekommen sein könnte, gibt es einige. Zahlen legen nahe, dass noch immer mehr Menschen im Zusammenhang mit einer Corona-Infektion sterben, als dies im öffentlichen Bewusstsein verankert sein mag. Zudem war die Grippe-Welle in jenem Jahr kräftig und ließ die Zahl der Influenza-Toten ansteigen, auch die Sterbefälle durch Lungenentzündungen nahmen deutlich zu. Weniger gut unterfüttert sind andere Thesen. Etwa, dass Menschen starben, weil sie in den Hochzeiten der Pandemie Vorsorgeuntersuchungen ausfallen ließen, auch dass die Hitzewellen im Sommer eine wesentliche Rolle für die hohe Übersterblichkeit spielte.
Dass die zehntausenden „zusätzlichen“ Todesfälle auf Impfungen zurückgehen sollen, ist von allen Thesen die mit Abstand schwächste. Bei näherer Betrachtung gibt es nichts, was sie nachhaltig stützt. Natürlich gab es im Laufe der Zeit nach dem Kampagnenstart im Dezember 2020 eine wachsende Zahl an Impfungen. Allerdings gab es auch mehr Infektionen als in den Anfangsmonaten der Pandemie und schließlich weniger Schutzmaßnahmen.
Regionale Statistiken zeigen, dass die Sterberaten insbesondere in der Nähe von Hotspots des Infektionsgeschehens auffällig hoch waren. Vergleichbare räumliche Parallelentwicklungen zwischen Todeszahlen und Impfungen würden zwar erneut nur Korrelationen abbilden, sie könnten aber immerhin ein Indiz für einen Zusammenhang liefern. Tatsächlich legt eine norwegische Studie nahe, dass Länder mit hoher Impfquote auch eine höhere Übersterblichkeit aufwiesen. Allerdings kommen andere, teils hochkarätig publizierte Untersuchungen, zum gegenteiligen Ergebnis – während weitere Analysen auf widersprüchliche Daten je nach Auswahl des Zeitraums verweisen. Hier zeigen sich die Schwierigkeiten des Konzepts Übersterblichkeit: Die Berechnungen sind mit so vielen Unsicherheiten behaftet, dass sich einfache Antworten verbieten.
COVID-19-Impfstoffe können zweifellos schwere Nebenwirkungen auslösen. Der von Betroffenen geprägte Begriff des PostVac-Syndroms hat inzwischen Eingang in die Wissenschaft gefunden. Die Arbeitsgruppe der Yale-Immunologin Akiko Iwasaki beschrieb erst kürzlich Symptome wie bei Long-COVID, wobei derartige Impfschäden nach bisherigem Wissensstand nur vergleichsweise selten vorkommen.
Das staatliche Paul-Ehrlich-Institut (PEI) erkannte bis zum Ende des ersten Quartals 2023 insgesamt nur 127 Todesfälle im Zusammenhang mit der COVID-19-Impfung an. Weil der Nachweis kaum zu führen ist und dem PEI Betroffenenberichten zufolge nicht alle Verdachtsfälle gemeldet wurden, könnte die tatsächliche Zahl der an den Folgen der Impfung verstorbenen Menschen höher liegen. Allein: Um das Ausmaß der Übersterblichkeit mit der Impfung in Verbindung zu bringen, bräuchte es mehr als eine nicht gänzlich erklärliche Statistik. Weder Beobachtungsstudien noch statistische Auswertungen oder kontrollierte klinische Versuche nähren jedoch die Vermutung, dass Impfungen für eine die Übersterblichkeitsdaten prägende Zahl von Todesfällen verantwortlich sein könnten. Im Gegenteil bekräftigt die Studienlage deutlich, dass eine Impfung vor schweren Verläufen und vor Todesfällen schützt, dass Geimpfte seltener sterben als Ungeimpfte. Plausible Hinweise, dass die Impfung signifikanten Einfluss auf die Sterberaten hatte, gibt es nicht.
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Der Text erschien zuerst in der Berliner Zeitung und bei RiffReporter. Grafik: pixabay/iXimus
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