27. September 2023
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Mit der feierlichen Eröffnung durch Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) beginnt an diesem Freitag ein Demokratie-Experiment: Der erste vom Bundestag beauftragte Bürgerrat soll sich mit dem Thema „Ernährung im Wandel – Zwischen Privatangelegenheit und staatlichen Aufgaben“ befassen. 160 Menschen, gewichtet nach soziodemografischen Merkmalen und Essgewohnheiten, wurden per Zufallslos dazu bestimmt, binnen fünf Monaten ein „Bürgergutachten“ zu erstellen.
Über ihren Beratungen steht die Frage: „Was erwarten die Bürgerinnen und Bürger in der Ernährungspolitik vom Staat? Wo soll er aktiv werden und wo nicht?“ Am Ende, so heißt es im Detailkonzept für den Bürgerrat, darf ihr Gutachten „maximal neun Empfehlungen“ enthalten – vor allem Maßnahmen, „die der Deutsche Bundestag auf Bundesebene beeinflussen kann“.
Das ganze Wochenende über werden die Ausgelosten sich kennenlernen und die Themen – die sie im Wesentlichen frei setzen können – strukturieren. Auf der Agenda stehen ein offenes Brainstorming sowie ein Rundgang durch Stationen mit Informationen über Aspekte wie Lebensmittelverschwendung, Preisbildung im Handel, Lieferketten, Tierhaltung und Ernährungsarmut. Im November und Januar folgen zwei weitere Präsenz-Wochenenden in Berlin, dazwischen sechs Online-Treffen und digitale Sitzungen der Redaktionsteams für das Gutachten.
Demokratiepolitisch ist der Bürgerrat ein Kompromiss: Über eine Ergänzung der repräsentativen Demokratie wird seit langem diskutiert, für direkte Bürgerentscheide gab es auf Bundesebene bislang jedoch keine Mehrheit. Das dürfte wohl auch deshalb so bleiben dürfte, weil sich für Volksentscheide aktuell am vehementesten die AfD ausspricht. Die Grünen hatten eine Forderung nach Bürgerabstimmungen auf Bundesebene jahrelange in ihrem Grundsatzprogramm verankert, bei der jüngsten Änderung schwenkten sie jedoch auf Bürgerräte um. Beteiligung statt Abstimmung also.
Aus Sicht der Organisatoren des Bürgerrates ist das gar kein Gegensatz. Der vom Bundestag beauftragte Verein Mehr Demokratie regte bereits an, beides zu kombinieren. Nicht, um Räte als Ersatz-Gesetzgeber zu etablieren, denn über die Vorschläge soll weiterhin das Parlament entscheiden. Um sicherzustellen, dass es die Anliegen der Bevölkerung ernstnimmt, sollen Bürger im Falle einer maßgeblichen Unzufriedenheit mit dem parlamentarischen Ergebnis ihre Anliegen aber auch auf Bundesebene per Volksentscheid durchzusetzen können – dann freilich nicht über kleine Zufallsgremien, sondern mit Mehrheiten nach zuvor definierten Quoren.
Unionsfraktionsvize Steffen Bilger (CDU) kritisierte den Bürgerrat dennoch als „politische Showveranstaltung“. „Unser Bürgerrat ist der Wahlkreis“ – auf diese Formulierung haben sich mehrere Abgeordneten seiner Fraktion zuletzt verständigt. Dabei war der Bürgerrat über rund ein Jahr auch von CDU/CSU-Abgeordneten in einer interfraktionellen Arbeitsgruppe mit vorbereitet worden. Wolfgang Schäuble, ein Befürworter der Beteiligungsgremien, hatte in seiner Zeit als Parlamentspräsident eigens eine Stabsstelle Bürgerräte in der Bundestagsverwaltung eingerichtet, um solche Formate professionell unterstützen zu können.
Dass sich die Union relativ kurz vor dem Bundestagsbeschluss für den Bürgerrat Ernährung im vergangenen Mai aus dem Projekt zurückzog (und schließlich dagegen stimmte), ist wohl das Produkt mehrere Faktoren: Der in weiten Teilen der Fraktion schon immer verbreiteten Skepsis gegenüber dem Format, der damals noch frischen Verärgerung über die Wahlrechtsreform der Ampelkoalition – und dem Umstand, dass die umstrittene Festlegung auf das Thema Ernährung kurz vor einem möglichen gemeinsamen Antrag medial durchsickerte und wie ein Ampel-Projekt dastand, mit dem die Opposition nichts zu tun hatte.
Seither mündet die Kritik in dem Vorwurf, eigentlich gehe es um ein Instrument, mit dessen Hilfe die Grünen ihre Ideen in der Ernährungspolitik durchzusetzen wollten. Die von den Fraktionen ernannten zwölf Mitglieder des Wissenschaftlichen Beirats für den Bürgerrat ergeben allerdings kein derart homogenes Bild. Achim Spiller ist als Vorsitzender des wissenschaftlichen Beratergremiums des Bundesernährungsministeriums (BMEL) ebenso dabei wie Professoren, die vor allem stark für einzelne Themen stehen – etwa Hans-Konrad Biesalski, der vor den Folgen von Ernährungsarmut für die Entwicklung von Kindern warnt, und Hermann Lotze-Campen vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung, der für eine stärker pflanzenbasierte Ernährung eintritt. Aber eben auch Wilhelm Windisch, der die Milchkuhhaltung in der Klimadebatte stets und mit teilweise provokanten Überschriften („Hafermilch ist keine Lösung“) verteidigt, und der Rechtsanwalt Moritz Hagenmeyer, der nicht nur Lehrbeauftragter ist, sondern auch dem Rechtsausschuss des Lebensmittelverbandes angehört.
Ohnehin bleiben Interessenvertreter im Bürgerrat nicht außen vor. „Im Rahmen des zweiten Wochenendes und der vierten, fünften und sechsten Onlinesitzung können neben wissenschaftlichen Expertinnen und Experten auch Interessenvertreterinnen und -vertreter im Bürgerrat sprechen“, heißt es im Detailkonzept. So spät, weil damit „sichergestellt“ werde, „dass die Bürgerinnen und Bürger sich zunächst gut einarbeiten können, bevor sie mit stärkeren politischen Positionen konfrontiert werden“.
Anders als mitunter vermutet, war es vorab nicht mit dem BMEL abgestimmt, dass der (bereits im Koalitionsvertrag vereinbarte) Bürgerrat das Thema Ernährung aufgreifen soll. Als diese Entscheidung fiel, hatte Minister Cem Özdemir (Grüne) bereits die Arbeit an der ebenfalls zu Beginn der Legislatur angekündigten Ernährungsstrategie der Ampel aufgenommen. Wie beides verzahnt wird – vor allem: wie mögliche Gegensätze zwischen Regierungsstrategie und Bürgergutachten aufgelöst werden –, ist noch offen.
Bei der Ernährungsstrategie liegt bisher nur ein Eckpunktepapier vor, auf das sich die Koalition Ende 2022 verständigte. Es enthält vor allem vage Absichtserklärungen, denen zufolge regionale Strukturen gefördert und Kantinenangebote gesünder und nachhaltiger gemacht werden sollen.
Die fertige Strategie soll eigentlich bis Ende des Jahres vom Kabinett beschlossen werden. Ob aber noch 2023 auch nur ein Entwurf in die Ressortabstimmung kommt, ist völlig offen, viele sagen auch: äußerst unwahrscheinlich. Die Einigungschancen insbesondere mit der FDP schätzt man bei den Grünen nach den weiterhin ungelösten Diskussionen über Werbebeschränkungen für Kinderlebensmittel derzeit als eher gering ein. Bis zur Landtagswahl in Bayern Anfang Oktober gilt ohnehin selbstverordnete Zurückhaltung. Oft genug schon hat gerade Freie-Wähler-Spitzenkandidat Hubert Aiwanger ernährungspolitische Themen genutzt, um Stimmungen zu schüren. Dem wollen gerade die Grünen keine Munition liefern.
Zwischen Bürgerrat und Ernährungsstrategie kommt es damit zum Kopf-an-Kopf-Rennen. Mitte Februar 2024 soll das fertige Bürgergutachten an den Bundestag übergeben werden. Dann wird es interessant: Es könnte Themen enthalten, die das BMEL aus Rücksicht auf die Koalitionspartner bei seinem Strategieentwurf außenvorlässt. Umgekehrt kursieren zur Vorbereitung des Regierungsplans bereits im vergangenen März zwölfseitige Listen aller Maßnahmen, die in den Stakeholder-Diskussionen aufgekommen waren und die weit über die Kompetenz des Bundes oder jedenfalls des BMEL hinausgehen. Darin geht es um die Schul- und Kita-Verpflegung, die Sache von Ländern und Kommunen ist, um Sozialleistungen, die Ernährungsarmut verhindern sollen, um Mehrwertsteuersenkungen für bestimmte Lebensmittel abgesenkt oder um eine gesundheitsfördernde Krankenhausverpflegung.
Entscheidend wird also weniger sein, welche Vorhaben in einem Bürgergutachten und einer Koalitionsstrategie stehen, sondern welche es später in Gesetzentwürfe schaffen. Dafür wird dann nicht nur das BMEL zuständig sein, sondern auch die Bundesministerien für Arbeit und Soziales, Gesundheit, Finanzen und andere.
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Bild: Mehr Demokratie e.V. (Beratungen beim Bürgerrat Demokratie in Leipzig, September 2019).
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