26. November 2023
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Auf keinen Fall, so scheint es, möchte Bettina Stark-Watzinger als diejenige dastehen, die die Long-COVID-Forschung blockiert. Es ist Mitte Juli 2023, und in den sozialen Medien kursiert ein Medienbericht darüber, wie viel – besser gesagt: wie wenig – Geld die Bundesforschungsministerin angeblich für diesen Zweck für 2024 einplane. Von zwei Millionen Euro ist die Rede. Die Zahl ist falsch, doch auf Twitter erzürnt der Bericht viele Long-COVID-Erkrankte. Manche fordern, wieder einmal, den Rücktritt der FDP-Politikerin.
Da meldet sich die Ministerin persönlich beim Autor dieses Textes. „Hallo“, schreibt sie in einer Direktnachricht. „Nein – die 2 Millionen stimmen nicht. Habe gebeten, dass mein Haus klarstellt. VG, BSW.“
Seit Beginn ihrer Amtszeit steht „BSW“ bei Betroffenen der Corona-Langzeitfolgen in der Kritik. Die Vorwürfe: Sie nehme ihre Erkrankung nicht ernst, knausere bei den Fördermitteln für die Grundlagen- und Therapieforschung. Dass Stark-Watzinger höchstpersönlich Direktnachrichten verschickt, um Medienberichte geradezurücken: Es ist ein ungewöhnlicher Schritt für eine Ministerin. Doch wie sie wirklich zu Long-COVID steht, blieb weiter rätselhaft.
Interne Dokumente geben jetzt einen Einblick, welche Linie Stark-Watzinger und ihr Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) verfolgen. Nach einem im vergangenen Juli gestellten Antrag auf Grundlage des Informationsfreiheitsgesetzes hat das Ministerium die Papiere jetzt herausgegeben. Es sind Unterlagen, mit denen die Fachleute des Ministeriums ihre Ministerin auf Gespräche mit Betroffenengruppen und Wissenschaftler:innen vorbereitet haben – und auf einen Termin mit Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD). Hintergrund-Briefings also, „Sprechzettel“ und „Einseiter“, die kompakt die wichtigsten Positionen und Gesprächsziele darstellen.
Zum Beispiel die Unterlagen zu einem Termin Stark-Watzingers am 25. Mai 2023 mit zwei Vertreterinnen der Initiative NichtGenesen, die Menschen mit Long-COVID, Impfschäden (PostVac) und der postviralen Multisystemerkrankung ME/CFS vertritt. Oberstes Ziel des Gesprächs, vermerken ihre Beamten auf dem „Einseiter“ für die Chefin: „Würdigung der Betroffenen.“ Besonders eine Botschaft soll die Ministerin los werden: „Wir nehmen Ihre Situation sehr ernst.“
Die NichtGenesen-Vertreterinnen zeigen Stark-Watzinger Videos von Erkrankten – dennoch, heißt es bei der Initiative heute: Man habe nicht den Eindruck gewonnen, dass die FDP-Politikerin Ausmaß und Schwere der Erkrankungen erkannt habe. Andernfalls hätte sie vor allem bereit gewesen sein müssen, mehr in die Grundlagen- und Therapieforschung zu investieren.
Dass Stark-Watzinger derartige Fördergelder nicht in Aussicht stellt, ist bei dem Gespräch freilich keine Überraschung mehr – die Argumentation dafür hatte sie bereits in ihrem Sprechzettel stehen. „Reaktiv“, heißt es da, solle die Ministerin erläutern, dass „zwischen der Relevanz einer Krankheit und dem Förderbudget […] kein Zusammenhang“ bestehe. „Es ist mir wichtig, dass wir strukturiert und evidenzbasiert vorgehen“, lautet ein erklärender Satz im „Vorschlag zur Gesprächsführung“. Und an anderer Stelle: Die Fördermaßnahmen würden „Schritt für Schritt“ entwickelt und bauten auf bisherigen Erkenntnissen auf, die Mittel sollen sich so „sukzessive addieren“. Übersetzt bedeutet das wohl: Auf keinen Fall also viel Geld auf einmal.
Immerhin schrieb das BMBF in diesem September schließlich 15 Millionen Euro zur Erforschung der Krankheitsmechanismen von ME/CFS aus. Dagegen stand mehr Geld für die bis dato mit zehn Millionen Euro geförderte Nationale Klinische Studiengruppe, die insbesondere an der Berliner Charité an Therapien für Long-COVID forscht, offenbar nicht auf dem Plan des Ministeriums. „Das BMBF ist für eine ausgabenneutrale Verlängerung offen“, heißt es im Sprechzettel – eine Erlaubnis also, den noch nicht genutzten Teil der eigentlich für 2022 und 2023 zugewiesenen zehn Millionen auch noch in 2024 nutzen zu dürfen. Eine Aufstockung schlug Stark-Watzinger in ihrem Budgetentwurf nicht vor. Erst der Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages stimmte in diesem November für eine Anschlussförderung der Studiengruppe in Höhe von zusätzlichen acht Millionen Euro bis 2026, endgültig muss darüber nun der Bundestag beschließen.
Das Gespräch mit NichtGenesen ist das zweite und den Ministeriumsangaben zufolge jedenfalls bis in den Hochsommer hinein letzte Treffen Stark-Watzingers mit Betroffenengruppen. Noch davor hatte sie Elena Lierck eingeladen, die Initiatorin von NichtGenesenKids – trotz des verwandten Namens eine von NichtGenesen unabhängige Initiative, die sich speziell um die Belange von Kindern kümmert. Interessant dabei: Stark-Watzinger vereinbarte den Termin gegen den ausdrücklichen Rat ihres Ministeriums.
Am 28. Februar 2023, so geht es aus den BMBF-Dokumenten hervor, hatte NichtGenesenKids um das Gespräch gebeten. Zehn Tage später stimmen Ministerialbeamte bereits einen Briefentwurf ab, um die Bitte abzulehnen. „Kein bilateraler Gesprächstermin zum jetzigen Zeitpunkt“, lautete das Votum der Fachleute im BMBF, nur eine größere Gesprächsrunde mit Betroffenenvertreter:innen solle es geben. Doch es kommt anders. „Frau Ministerin möchte mit dieser Initiatorin ein Gespräch führen“, notieren die Beamten.
Bereits am 23. März kommt es zu dem halbstündigen Treffen. Es sei vor allem darum gegangen, wie Schulunterricht für langzeiterkrankte Kinder und Jugendliche organisiert werden könnte, berichtet Lierck: „Frau Stark-Watzinger war schockiert zu erfahren, dass kranke Kinder auf Förderschulen geschickt werden, weil ihre Regelschulen mit der Situation überfordert sind.“ Insgesamt habe sich „BSW“ durchaus interessiert gezeigt, aber dennoch einen „eher reservierten“ Eindruck gemacht. „Sie war schwer zu greifen“, sagt Lierck.
Mit Blick auf ihren Forschungsetat hätte Stark-Watzinger NichtGenesenKids ohnehin nichts anzubieten gehabt. Die Datenlage zu Long-COVID und ME/CFS bei Kindern sei „noch dürftiger“ als bei Erwachsenen, viele Entwicklungen aber analog. „Eine spezifische Ausrichtung der BMBF-Förderaktivitäten auf Kinder erscheint […] zum jetzigen Zeitpunkt nicht zielführend“, so die Argumentation in den Dokumenten.
Eine solche Ausrichtung könnte es künftig gleichwohl geben – in der Versorgungsforschung. Für die zeichnet nicht die Forschungsministerin, sondern Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) verantwortlich. Ebenfalls nicht auf seinen Vorschlag hin, sondern auf Drängen von Abgeordneten empfahl der Haushaltsausschuss neben einer Aufstockung der Gelder für die Versorgungsforschung von 41 auf mehr als 101 Millionen Euro bis 2029 auch zusätzliche, auf die Versorgung von Kindern und Jugendlichen ausgerichtete Forschungsmittel in Höhe von 52 Millionen Euro bis 2028.
Schwerlich behaupten lässt sich, dass die beiden Ministerien eine gemeinsame Long-COVID-Strategie verfolgten. Hin und wieder beharken sie sich sogar öffentlich – etwa, wenn es um BC 007 ging, jenen Wirkstoff des von ehemaligen Charité-Wissenschaftlern gegründeten Startups Berlin Cures, der in Studien erprobt wird und große, bisher nicht erfüllte Hoffnungen bei Betroffenen weckt. Direkt nach einem Treffen mit dem Chef des Unternehmens twitterte Lauterbach im Februar dieses Jahres: „Werde auf BMBF noch einmal zugehen zur Finanzierung einer Studie mit BC007.“ Stark-Watzingers Parlamentarischer Staatssekretär Jens Brandenburg (FDP) antwortete prompt und ebenfalls per Tweet: Eine Pilotstudie mit BC007 habe man längst bewilligt, nur habe das Unternehmen dafür zunächst keinen Wirkstoff geliefert. Süffisant fügte Brandenburg an: „Das kann man bei uns auch vor solchen Terminen erfahren.“
Denkbar, dass es Lauterbach weniger um eine Pilot- als um eine Zulassungsstudie ging – schließlich ist auch der Gesundheitsminister mit der Erwartung konfrontiert, möglichst schnell evidente Therapien anbieten zu können. Die Regierungsdokumente geben Aufschluss über die Haltung des Forschungsministeriums dazu.
Ende Mai 2023, im Vermerk zu dem Gespräch mit NichtGenesen, heißt es deutlich: „Eine Förderung von Zulassungsstudien zum Wirkstoff BC 007 (Berlin Cures GmbH) durch das BMBF kann nicht in Aussicht gestellt werden.“ Die Begründung findet sich bereits in den Papieren, die Ministerin Stark-Watzinger zur Vorbereitung auf den Termin erhalten hatte: „Die klinische Entwicklung von Medikamenten bzw. Zulassungsstudien werden (sic!) grundsätzlich von der Pharmaindustrie bzw. über Investoren finanziert.“ Ein Grundsatz, den das BMBF beim Thema Long-COVID bis heute nicht verlassen hat.
Jene Unterlagen, die Beamte Stark-Watzinger vor einem direkten Gespräch mit Lauterbach und einem Staatssekretär aus dem Bundessozialministerium am 16. März dieses Jahres in die Hand gaben, deuten noch auf weitere Differenzen zwischen den Ministerien hin.
„Es ist nicht davon auszugehen, dass mehr HH-Mittel [Haushaltsmittel, Anm. d. Red.] verfügbar gemacht werden können“, steht auf dem Einseiter. Offenbar vor diesem Hintergrund gehe es darum, die „zugespitzten“, hohen „Erwartungen [von] Betroffenenvereinigungen u.a.“ zu managen, die man im BMBF so skizziert: „großes ungezieltes Wirkstoffprogramm, Umgehung der Verfahren von Forschungsförderung und Zulassung, Therapieentwicklung in unrealistisch kurzer Zeit“.
Anders als Kabinettskollege Lauterbach trat Stark-Watzinger nie erkennbar mit dem Wunsch nach einem größeren Budget für die Long-COVID-Forschung in Erscheinung. Während der Gesundheitsminister öffentlich Druck zu machen versuchte, hatte man im BMBF frühzeitig damit geplant, dass es nicht mehr Geld geben würde. Kämpfte „BSW“ nicht für mehr, weil sie das nicht wollte, den Bedarf nicht sah? Oder weil sie es aus Loyalitätspflichten heraus nicht konnte? Immerhin ist es Stark-Watzingers Parteichef Christian Lindner, der sich der Öffentlichkeit als ein Finanzminister präsentierte, der für einen rigiden Sparkurs und eine strikte Einhaltung der Schuldenbremse eintritt.
Im Gespräch mit Lauterbach, so der Rat ihrer Beamten, solle Stark-Watzinger die Problematik aktiv ansprechen: „Zusätzliche Mittel sind unwahrscheinlich, daher Diskussionspunkt: Wie gehen wir mit den hohen Erwartungen des Außenraums um?“ Vorschlagen soll sie ein „gemeinsames Gespräch“ der Ministerien mit Betroffenenvereinigungen. Das „gemeinsam“ ist unterstrichen, doch zu einem solchen Gespräch kommt es nicht.
Immer wieder drängt das BMBF auf eine „gemeinsame Kommunikationslinie“ der Bundesregierung, die bisherige Kommunikation sei „noch nicht abgestimmt“. Die Dokumente lesen sich, als hielten Stark-Watzingers Leute die öffentlichen Beiträge Lauterbachs für zu alarmistisch, gerade bei der Frage, wie viele Menschen eigentlich von Long-COVID betroffen sind. Das Forschungsministerium hatte beim Erwartungsmanagement anscheinend andere Vorstellungen.
Also: Lauterbach schiebt an, Stark-Watzinger bremst? Nein, derart einseitig sind die Rollen nicht verteilt. Nach einem erst wenige Tage zuvor einberufenen Gespräch der Forschungsministerin mit Wissenschaftler:innen am 30. März, darunter mit der Charité-Immunologin Carmen Scheibenbogen die führende deutsche Therapieforscherin, heißt es in einem Vermerk: „Es gibt größere Versorgungsdefizite, auf die das [Bundesgesundheitsministerium] angesprochen werden sollte.“ Ein „großes Problem“ seien die „viel zu langen Wartezeiten“ für Termine in den Long-COVID-Ambulanzen. Die Vergütung der Ärztinnen und Ärzte für Behandlungen müsse sichergestellt werden, zudem sollten die Kassen „ein qualitätskontrolliertes Post-COVID-Assessment bezahlen“.
Und in der Vorlage für das Treffen mit Lauterbach steht als Frage an den Gesundheitsminister: „Können bislang machbare Therapieformen durch die Krankenkassen besser anerkannt werden?“ Als Beispiel wird ausgerechnet die hochumstrittene Blutwäsche benannt. Es wird von da an noch ein halbes Jahr dauern, bis Lauterbach in diesem September tatsächlich eine Liste von Off-Label-Therapien ankündigt, die die Kassen von 2024 an übernehmen sollen.
Dass das Forschungsministerium gerade im März 2023 einige Termine sehr kurzfristig ansetzte, dürfte indes kaum ein Zufall sein. In diesem Monat hatte NichtGenesen eine bildstarke Protestaktion vor dem Ministerium veranstaltet und zahlreiche Briefe von Betroffenen an die Ministerin organisiert. „BSW“ war der Aktionen ferngeblieben. Man habe besprochen, dass Staatssekretär Brandenburg für 20 Minuten „rausgeht“, heißt es in einem internen E-Mail-Austausch, „die Ministerin wird auf der Regierungsbank [im Bundestag] sitzen.“ Auch wenn die Aktionen von Betroffenen nicht zu dem von ihnen erhofften Ergebnis geführt haben: Etwas ausgelöst haben sie zweifellos.
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Der Text erschien zuerst bei RiffReporter. Bild: BMBF/Hans-Joachim Rickel
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