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Martin Rücker

Ernährungsarmut in Deutschland: Warum nichts vorankommt

Vor einem Jahr erkannte Cem Özdemir Ernährungsarmut als Problem im reichen Deutschland an – doch passiert ist nichts. Nun zeigt ein Gutachten: Das ist auch ein menschenrechtliches Problem. 

18. Dezember 2023

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Ein Jahr ist es her, dass Cem Özdemir das Problem erstmals anerkannte. „Auch in einem reichen Land wie Deutschland gibt es Ernährungsarmut“, schrieb der Bundesernährungsminister kurz vor Weihnachten 2022 in einem Gastbeitrag für die Welt. „In einkommensschwächeren Haushalten kommt weniger Vielfalt auf den Tisch. An Obst und Gemüse wird gespart, um Lebensmittel zu kaufen, die schneller satt machen“, so der Grüne.


Die Mahnungen häufen sich seit Jahren. 2020 fasste der Wissenschaftliche Beirat des Bundesernährungsministeriums die Studienlage recht drastisch zusammen, warnte vor „armutsbedingter Mangelernährung und teils auch Hunger“ in Deutschland. Im März 2023 legte das Gremium mit einer neun Stellungnahme nach und schätzte die Zahl der Menschen, die sich eine gesunde Ernährung nicht leisten können, auf drei Millionen. Vor allem die Entwicklung armutsbetroffener Kinder halten die Experten für irreversibel gefährdet, wenn es in jungen Jahren an Vitaminen und Mineralien fehlt. Und nährstoffreiches Obst und Gemüse ist eben deutlich teurer als Nudeln.


Mit seinem Eingeständnis vollzog Özdemir eine Kehrtwende in der Politik seines Ministeriums. Vorgängerin Julia Klöckner hatte Mangelernährung noch als Problem verortet, das auf anderen Kontinenten spielt – nicht in Deutschland. „Wir können uns alle glücklich schätzen, in unserem Land keinen Hunger oder existenziellen Mangel erleben zu müssen, auch wenn nicht wenige einen knappen Geldbeutel haben“, sagte die CDU-Politikerin nach ihrem Amtsantritt 2018. Eine Haltung, von der sie nie abwich.


Politisch allerdings hat der Kurswechsel keinen Ertrag gebracht. Jeder Bürger müsse sich gesundes Essen leisten können – diesen Anspruch formulierte Özdemir, ohne ihn erfüllen zu können. Das liegt auch an der fehlenden Zuständigkeit: In der Sozialpolitik redet der Ernährungsminister nicht mit.


Rekordinflation verschärft das Problem


Die aber steht im Fokus der Forschung. 2021 berechneten Wissenschaftler von Charité und Uni Potsdam, dass Hartz IV wie auch der damalige Mindestlohn die Kosten einer gesunden Ernährung nicht deckt. 2022 bestätigten Forscher von Uni Bonn und Charité, dass der Regelsatz für die realen Kosten der Ernährung „nicht ausreicht“. Das neue Bürgergeld änderte daran nichts. Es gesteht einem Erwachsenen mittlerweile 5,73 Euro pro Tag für Essen und Getränke zu – doch der Satz stieg weniger stark als die Lebensmittelpreise, die zuletzt eine Rekordinflation erfuhren.


Sozialminister Hubertus Heil (SPD) indes macht keine Anstalten, Özdemir zu folgen. Im jüngsten Armuts- uns Reichtumsbericht der Bundesregierung ist zwar vom „ungünstigen Ernährungsverhalten“ Armutsbetroffener die Rede – dass gesünderes Essen auch schlicht am Geld scheitern könnte, kommt nicht einmal als Gedanke vor. „Weil nicht sein kann, was nicht sein soll“, sagt dazu mantraartig der Ernährungsmediziner Hans Konrad Biesalski, der in den vergangenen Jahren wie wohl kein zweiter vor den Folgen der Ernährungsarmut warnte.


Der emeritierte Professor der Universität Hohenheim hatte lange die dramatischen Folgen von Vitaminmangel in Entwicklungsländern untersucht – und gelangte dabei zur Einschätzung, dass die Entwicklung von Kindern auch in Industrienationen längst Schaden nimmt. Daten, die eine schlechtere Gehirnentwicklung und auch ein geringeres Längenwachstum von Kindern in Armut belegen, führt Biesalski wesentlich auch auf unzureichende Ernährung zurück.


Gutachten: Bürgergeld ist menschenrechtswidrig


Einem neuen Rechtsgutachten zufolge kollidiert die Bundesregierung damit sogar mit einem grundlegenden Menschenrecht – dem Recht auf Nahrung. Ihm zufolge müssen sich alle Menschen nicht nur eine sättigende, sondern auch eine gesunde Nahrung leisten können: So argumentiert die Hamburger Anwaltskanzlei Günther im Auftrag der Linken im Bundestag. „Diesen Anforderungen werden die Regelsätze des Bürgergelds nicht gerecht, sie verletzen das Menschenrecht auf angemessene Ernährung“, argumentieren die Juristen. Sie sehen die Bundesregierung in der völkerrechtlichen Pflicht, die Beträge zu erhöhen.


Bereits die Berechnungsgrundlage der Bürgergeldsätze stufen sie als rechtswidrig ein – weil gar nicht erst ermittelt wird, welches Budget für einen gesunden Einkauf nötig ist. Tatsächlich orientiert sich der Anteil für Lebensmittel im Regelsatz an den tatsächlichen Ausgaben einkommensschwacher Haushalte, ohne zu prüfen, wozu dies reicht. Die Linken-Abgeordnete Ina Latendorf fordert daher, „die tatsächlichen Kosten für eine gesunde Ernährung zu ermitteln, die Regelsätze entsprechend anzupassen und letztlich die Ernährungspolitik grundlegend zu ändern.“


Das könnte sich womöglich auch Minister Özdemir vorstellen. Er hat angekündigt, soziale Aspekte zum Schwerpunkt der für Anfang 2024 erwarteten Ernährungsstrategie der Bundesregierung zu machen. Nach dem Haushaltsurteil des Bundesverfassungsgerichts erscheint jedoch zweifelhaft, ob ihm dies gelingt. Neben der Union hat in Zeiten knapper Kassen auch der Koalitionspartner FDP das Bürgergeld als Option für Einsparungen ins Gespräch gebracht.


Der stärkste Impuls könnte daher vom Bürgerrat Ernährung ausgehen. Im Frühjahr sollen 160 ausgeloste Bürger ihre Vorschläge zur Ernährungspolitik vorlegen. Eines der Schwerpunktthemen, für das sie sich entschieden haben: die „Bezahlbarkeit von Lebensmitteln“.  


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Der Text erschien zuerst in der Frankfurter Rundschau. Bild: BLE

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