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Kein Puffer mehr

Martin Rücker

»Manche definieren Menschenwürde nur noch über Arbeitsfähigkeit«

Jeder sechste Erwachsene und sogar jedes fünfte Kind in Deutschland gelten als armutsgefährdet, so eine aktuelle Berechnung der Bertelsmann-Stiftung. Spätestens seit der Rekordinflation infolge des russischen Angriffs auf die Ukraine diskutiert die Politik über ständig neue Entlastungspakete. Wer dabei jedoch kaum beteiligt ist und nur selten zu Wort kommt, sind Armutsbetroffene selbst. Das Armutsnetzwerk will das ändern: In dem Verein haben sich Menschen mit Armutserfahrung zusammengeschlossen, um ihre Perspektive einzubringen und gehört zu werden. Ein Interview mit Vorstand Michael Stiefel über fehlende Teilhabe und Frühstück mit Trüffelomelettes. 

12. Februar 2023

Michael Stiefel ist ehrenamtlicher Vorstand des Armutsnetzwerks, einem bundesweiten Zusammenschluss armutsbetroffener Menschen. Der 56-Jährige war selbst wohnungslos und gründete in dieser Zeit eine Selbstvertretung obdachloser Menschen. Heute leitet Stiefel bei der Diakonie Deutschland in Berlin ein Projekt zur besseren Beteiligung von Menschen mit Armutserfahrung.


Frage: In Deutschland gelten 16 Prozent der Erwachsenen und jedes fünfte Kind als armutsgefährdet. Die Inflation liegt seit Monaten auf Rekordhöhe, vor allem die Energie- und Lebensmittelpreise sind stark gestiegen. Mit welchen Strategien reagieren Armutsbetroffene auf diese Entwicklung? 


Michael Stiefel: Wir erleben schon lange, dass sich Krisen überlagern. Die Corona-Pandemie war eine unglaubliche Herausforderung für Menschen mit geringem Einkommen. Viele haben ihren Job verloren, mussten in Kurzarbeit gehen oder in beengten Wohnungen ohne digitale Geräte organisieren, dass ihre Kinder am Schulunterricht teilnehmen. Dann kam die nächste Krise, steigende Mieten, der Ukraine-Krieg – die Belastungen wurden nicht weniger. Viele fühlen sich wie in einem Schraubstock. Gerade die Menschen in der Grundsicherung haben keinen Puffer mehr.


Was bedeutet das?


Die Regelsätze sind kleingerechnet, auch beim neuen Bürgergeld. Den Geldbedarf für Bekleidung, Wohnen, Reparaturen oder für Lebensmittel können sie nicht decken. Wenn das Geld nicht reicht, kaufen sich die Menschen als erstes keine neue Kleidung mehr. Als zweites fahren sie nicht mehr zur Beerdigung der Oma. Soziale Teilhabe fällt aus. Den Rest puffern sie durch Mangelernährung ab. Sie kaufen vorwiegend schnell sättigende, kohlenhydratreiche Lebensmittel, von Obst kann keine Rede mehr sein. Gerade für Kinder ist das katastrophal.


Studien bestätigen, dass der Regelsatz die Kosten einer gesunden Ernährung nicht berücksichtigt. Als Entlastungsmaßnahme fordert Ernährungsminister Cem Özdemir nun den Wegfall der Mehrwertsteuer auf Obst und Gemüse – wäre das eine Hilfe?


Menschen im Armutsnetzwerk haben das anhand ihrer Kassenzettel einmal durchgerechnet. Eine kam auf eine Mehrwertsteuer von 47 Cent im Monat für Obst und Gemüse. Viele können sich ja kaum noch frische Lebensmittel leisten, oder sie holen sie ohne Steuer bei der Tafel. Eine relevante Ersparnis wäre diese Maßnahme nur für Menschen mit großem Budget. Wer den Tag mit getrüffeltem Wachteleieromelette an Iberico-Schinken beginnt, der profitiert davon natürlich… Wir sehen schon, dass sich die Politik um Entlastungen bemüht. Doch gerade bei Menschen in Armut kommt davon zu wenig an.


Das neue Bürgergeld haben vor allem SPD und Grüne als große Sozialreform gefeiert – wie sehen Sie diese Euphorie?


Die Reform geht Schritte in die richtige Richtung. Der Vermittlungsvorrang ist weg, es heißt nicht mehr: Arbeit um jeden Preis und bloß keine Weiterbildung. Das ist überfällig, denn wir haben 20 Jahre Dequalifizierung und Verlust beruflicher Kompetenzen erlebt, so dass sich heute eigentlich niemand über den Fachkräftemangel zu wundern braucht. Aber der Regelsatz ist beim Bürgergeld weiterhin zu niedrig. Er gleicht nicht einmal die Inflation aus. Als die Grundsicherung 2005 eingeführt wurde, war die Kaufkraft höher. Da reichte der Regelsatz zum Beispiel für 177 Pakete vom günstigsten Klopapier – heute nur noch für 146 Pakete.


Wie beeinflusst das die Einstellung der Betroffenen gegenüber Politik?


Mehr Leute als je zuvor resignieren. In Stadtteilen mit größeren sozialen Problemen sinkt die Wahlbeteiligung, die Parteien ziehen sich zurück. Auf der anderen Seite gibt es aber auch neue Bewegungen, in denen Menschen aktiv werden. Vor wenigen Tagen haben Wohnungslose vor dem Roten Rathaus in Berlin schon zum fünften Mal eine Mahnwache gegen Obdachlosigkeit und Verdrängung organisiert. Seit einem Jahr gehen Menschen in den sozialen Medien unter dem Hashtag #IchBinArmutsbetroffen an die Öffentlichkeit, überwinden ihre Scham und organisieren Protestaktionen. Engagement ist für die Betroffenen aber oft schwierig, schon am Geld für die Fahrkarte zu den Treffen kann es scheitern. Das ist der Grund, warum die Diakonie die Selbstorganisation von Menschen mit Armutserfahrung unterstützt. Es ist wichtig, dass sie ihre Vorstellungen selbst darlegen können.


Teilen Sie den oft artikulierten Vorwurf, dass die Verantwortlichen in der Politik zu weit weg sind von der Lebenswirklichkeit von Menschen in Armut?


Das weiß ich nicht. Entscheidend ist, an wem sie sich orientieren. Die Mittelschicht macht Politik für die Mittelschicht, für das eigene Wählerpotenzial. Aber haben Sie mitbekommen, dass der bayerische Ministerpräsident Markus Söder gerade eine erstaunliche Idee präsentiert hat? Er sagte: „Wir wollen Betroffene entlasten, statt ihnen mit Sanktionen zu drohen.“


Ehrlich gesagt: Nein…


Er meinte damit die Hauseigentümer und Großgrundbesitzer, die die Arbeit bei der Grundsteuererklärung bisher verweigert haben und die jetzt einen zweiten Aufschub bekommen. Für eine Bürgergeldbezieherin will Herr Söder weiterhin das Existenzminimum kürzen, wenn diese einen Termin auf dem Amt verpasst. Es wird nicht versucht, die unteren 16 Prozent dieser Gesellschaft auf Augenhöhe einzubeziehen.


Immer wieder fordern Betroffene: Verantwortliche Politiker sollten selbst mal eine Zeit lang vom Regelsatz leben.


Ja. Über Jens Spahn bis hin zu Hubertus Heil wurden schon viele Minister dazu eingeladen. Ich halte das nicht für zielführend. Das Bürgergeld kann eine kurzfristige Armutslage überbrücken, es funktioniert aber nicht langfristig. Was eine Armutslage ist, merken Sie erst dann, wenn die guten Schuhe dahin sind und die Haushaltsgeräte den Geist aufgeben. Armut ist etwas anderes, als ein paar Tage mit wenig Geld auszukommen. Meine Erwartung an Politiker ist eine andere, als solche Selbstversuche zu unternehmen.


Welche?


Wie alle Menschen dürfen wir die Vertreter bei der Sozialversicherung wählen, es gibt Schülervertretungen oder Seniorenbeiräte, wir können uns in Parteien engagieren. Es gibt Wohlfahrtsverbände, die sich als Sprachrohr von Bedürftigen sehen, die Diakonie bezieht sie direkt mit ein. Aber es gibt keine politische Vertretung im Bereich der Grundsicherung. Eine direkte Beteiligung von Menschen mit Armutserfahrung wird es nur geben, wenn sie das vehement einfordern. Beispielsweise hat die Mahnwache gegen Obdachlosigkeit in Berlin dazu geführt, dass Selbstvertretungsinitiativen nun bei den Strategiekonferenzen des Berliner Senats zur Wohnungslosenhilfe mitreden können. Von allein passiert das nicht.


Wie lässt sich politische Beteiligung konkret verbessern?


Die Bereitschaft bei den Menschen mit Armutserfahrung ist da, in Ergänzung zur repräsentativen Demokratie ihren Sachverstand als „Experten ihres Lebens“ einfließen zu lassen. Das sollte genutzt werden. Warum gibt es keinen Sozialgipfel mit Menschen, die in Armut leben? Solche Formate stoßen auf Widerstand. Vor wenigen Tagen konnte man das bei Hart aber fair bestaunen…


…der ARD-Talkshow…


Genau, es ging um die Klimapolitik. Eine Vertreterin der Letzten Generation hat in der Sendung einen Bürgerrat vorgeschlagen, ein Gremium also, in dem per Zufallsauswahl alle gesellschaftlichen Schichten vertreten sind und das Vorschläge für die Politik erarbeitet. Konstantin Kuhle von der FDP hat dies als komplett antidemokratisch abgelehnt. Das Erstaunliche ist: Er hat ganz vergessen, dass der Koalitionsvertrag der Ampel die Einrichtung genau solcher Bürgerräte verspricht. Nicht anstelle des Bundestages, sondern als Ergänzung zum Parlament und um die Teilhabe der Menschen an politischen Entscheidungen zu verbessern. Ich hielte einen Bürgerrat zur Sozialpolitik für eine gute Sache.


Wenn Sie die bisherige Teilhabe als unzureichend kritisieren – hat dies auch zu einem falschen Bild Armutsbetroffener in der Öffentlichkeit geführt?


Manche wollen die Menschenwürde nur noch über die Arbeitsfähigkeit der Menschen definieren. Das ist schräg. Armut ist oft keine vorübergehende Lage, aus der sich jeder aus eigener Kraft wieder lösen kann. Wir gehen gerade auf die Vollbeschäftigung zu, und dennoch sind 5,7 Millionen Menschen in der Grundsicherung. Die meisten von ihnen können nicht erwerbstätig sein – sei es, weil sie erkrankt sind, weil sie Kinder betreuen oder Angehörige pflegen. Genau für solche Lebensrisiken ist unser Sozialsystem eigentlich gemacht. Stattdessen muss sich ein Mann, der nach 35 Jahren Arbeit und mehreren Herzinfarkten gesundheitlich nicht mehr kann, zum Vorwurf machen lassen, dass er nicht arbeiten geht. Eine bessere Beteiligung von Armutsbetroffenen könnte da manches Gesetz korrigieren und besser machen. Den gesellschaftlichen Diskurs wird das nur längerfristig verändern können.


Dieses Interview erschien zuerst in der Frankfurter Rundschau. Foto: privat.

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