Der Schweizer Philipp Schütz (46) ist Chefarzt am Kantonsspital Aarau und Professor für Innere Medizin und Endokrinologie an der Universität Basel. In seiner weltweit beachteten „EFFORT-Studie“ von 2018 zeigte er, welchen Nutzen Ernährungstherapie im Krankenhaus hat.
Frage: Mit ihrer Forschung konnten Sie belegen, dass Ernährungstherapie im Krankenhaus Leben retten kann. Warum gehört sie nicht längst zum Standard?
Prof. Philipp Schütz: Der Hauptpunkt ist Ignoranz, im Klinikmanagement und in der Politik. Wir geben viel Geld für Medikamente aus, die viel teurer und viel weniger effizient sind. Dagegen ist die Ernährungstherapie lange in eine falsche Ecke gedrängt worden. In der Medizin hatte sie einen Ruf wie Homöopathie, dass sie wahrscheinlich nicht viel bringt. Lange Zeit fehlten gute klinische Studien. Das hat sich aber geändert: Wir haben die Evidenz, dass die Mortalität durch Ernährungsmaßnahmen im Krankenhaus sinkt und Patienten auch punkto Lebensqualität und Funktionalität profitieren. Seitdem nimmt die Skepsis in der Ärzteschaft ab, die Kliniken setzen sich damit auseinander. Es braucht aber noch einige Aufklärungsarbeit. Wir könnten viele Todesfälle vermeiden.
Mancher Krankenhausverantwortlicher bezweifelt, dass Ernährungsmaßnahmen in den wenigen Tagen im Krankenhaus so viel bewirken.
Das ist empirisch eindeutig belegt. In unserer Studie haben wir große Effekte in nur zehn Tagen erreicht. Wichtig ist, gleich bei der Klinikaufnahme ein Screening auf Mangelernährung durchzuführen, damit wir keine Zeit verlieren. Ob kranke Menschen jeden Tag 200 Kilokalorien und 30 Gramm Eiweiß mehr oder weniger essen, das summiert sich. Zudem sinkt die Rehospitalisierungsrate, wenn wir die Patienten auch für die Zeit nach ihrer Entlassung beraten. Ernährungstherapie lohnt sich also in jeder Hinsicht. Das Problem ist, dass viele Kliniken unterfinanziert sind. Es ist daher nicht die günstigste Zeit, um neue Programme ins Leben zu rufen.
Wenn Sie von Ernährungstherapie sprechen: Welche Maßnahmen wären am wichtigsten?
Als erstes das Screening der Patienten, um Mangelernährung früh zu erkennen. Für die Betroffenen muss dann im Team der Ernährungsberater und der Krankenhausküche ein individuell zugeschnittener Therapieplan erstellt werden. Die Probleme liegen sehr unterschiedlich: Die einen haben Schluckbeschwerden, andere eine Diabetes- oder Schilddrüsenerkrankung, oder ihnen fehlt wegen ihrer Krankheit einfach der Appetit. Entsprechend angepasst muss auch die Verpflegung sein. Außerdem ist Essen etwas sehr Persönliches. Es ist deshalb wichtig, die Patienten mit einzubeziehen. Nur so können wir ihnen etwas mitgeben, was sie auch nach der Entlassung aus der Klinik umsetzen können.
Hat Ihre Forschung in der Schweiz zu Verbesserungen geführt?
Wir sehen deutliche Fortschritte. Neu wird das Mangelernährungsmanagement in der Klinik in den Qualitätsvertrag zwischen Kliniken und dem Bundesamt für Gesundheit aufgenommen. Wir sind gerade dabei, mit dem Dachverband der Krankenhäuser spezifische Kriterien festzulegen. Zum Beispiel werden die Kliniken mindestens 90 Prozent ihrer Patienten auf Mangelernährung screenen und ihnen dann eine Ernährungsberatung anbieten müssen. Erreichen sie die Vorgaben aus dem Qualitätsvertrag nicht, werden finanzielle Abschläge fällig. Das wird das Interesse der Kliniken weiter steigern. Schon heute haben wir in der Schweiz etwas bessere Bedingungen als in Deutschland, weil die Ernährungstherapie bei den Fallpauschalen besser vergütet wird. Deshalb gibt es in fast allen größeren Kliniken interdisziplinäre Ernährungsteams, die sich um die Patienten kümmern.
Viele Tumorpatienten, aber auch Menschen mit Diabetes oder Adipositas, erhalten in Deutschland keine Ernährungstherapie. Müsste sich auch ambulant etwas ändern?
Es wäre für die Patienten enorm wichtig, dass eine Ernährungsberatung von den Kassen bezahlt wird. Es gibt in der Gesundheitspolitik immer die Angst vor Kostensteigerungen. Für die Ernährungstherapie in der Klinik konnten wir zeigen, dass sie nicht nur den Patienten hilft, sondern auch sehr kosteneffizient ist. Ich denke, dass wir auch mit ambulanter Ernährungsberatung die Mortalität senken und zudem Kosten sparen können, weil die spätere Behandlung ohne diese Prävention teurer wird. Diese These überprüfen wir gerade mit einer neuen Studie, dem „EFFORT II“-Versuch.
[Bild: Kantonsspital Aarau]