4. Mai 2023
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Der Ort, an dem sich Marlene Beier erstmals verstanden fühlte, war keine Arztpraxis, sondern eine Facebook-Gruppe. Als sie nach ihrer Corona-Infektion einfach nicht mehr gesund wurde, stieß sie beim Googeln auf eine Selbsthilfegruppe, hörte zum ersten Mal von „Long COVID“. Ein Begriff, den bezeichnenderweise Betroffene erfunden hatten [https://pharmakotherapie.blog/2020/12/15/longcovid/], als sie sich in den sozialen Medien organisierten – lange bevor das Gesundheitssystem aufwachte. Auf Facebook fand sie „einen Austausch mit anderen Menschen, die auch nicht verstehen, was mit ihrem Körper gerade passiert.“ Und die vor allem mehr Verständnis für sie aufbrachten als Beiers Ärzte.
Es ist der erste Corona-Winter, als es Beier erwischt. Sie ist damals 37 Jahre alt, sportlich fit und voller Energie, eine promovierte Naturwissenschaftlerin mit Job in der klinischen Forschung. Eine, die sich auskennt im Gesundheitssystem. So jedenfalls denkt sie, als sie noch nicht ahnen kann, welch Odyssee sie in den folgenden zweieinhalb Jahren erleben wird. Eine Odyssee, die beispielhaft ist für die Geschichten zigtausender Long-COVID-Erkrankter, die im Gesundheits- und im Sozialsystem durch alle Raster fallen.
Bis zum Tag, an dem dieser Text erscheint, wird Beier mehr als 100 Termine bei Ärzt:innen hinter sich gebracht haben, in Hausarztpraxen, in der Kardiologie, der Psychologie, der Neurologie, der Orthopädie und bei weiteren Spezialist:innen. Sie wird sechs Labore besucht haben, dutzende Blutuntersuchungen und fünf MRTs gemacht haben; sie wird acht Mal in der Klinik gewesen sein, drei Mal in der Notaufnahme. Sie wird gut 100 Sitzungen bei Physio-, Ergo- und anderen Therapeut:innen absolviert sowie mehr als 30 Medikamente und Nahrungsergänzungsmittel ausprobiert haben, ohne gesund zu werden. Und sie wird es nicht mehr zählen können, wie oft sie telefonisch oder schriftlich mit Behörden Kontakt hatte: mit der Agentur für Arbeit, dem Versorgungsamt, der Kranken- und Pflegekasse und mit der Rentenversicherung; alles, um ihr Leben als Long-COVID-Patientin zu organisieren.
Marlene Beier, die in Wirklichkeit einen anderen Namen trägt, hat es MedWatch ermöglicht, ihre Geschichte anhand von Patientenakten und Behördendokumenten nachzuzeichnen. Es sind rund 350 Seiten: Labordaten, Ärztebriefe, Bescheide, E-Mails und Briefe. Auf diesen Unterlagen sowie auf Gesprächen mit Beier beruht die Darstellung in diesem Text.
Erst im Januar 2023 wird ihr eine Diagnostik vorliegen, die all das zusammenfasst, was in all den Monaten zuvor nach und nach herausgefunden wurde. Ihre heutige Ärztin bescheinigt ihr darin neben dem Post-COVID-Syndrom auch die Multisystemerkrankung ME/CFS, die sich bei Beier in Form von Durchblutungsstörungen, Herzrhythmusbeschwerden und verschiedenen Nervenerkrankungen zeigt. Bei genaueren Blutuntersuchungen fielen sogenannte Autoantikörper auf, Antikörper also, die sich gegen das eigene Gewebe richten. Beiers Ärztin hält es deshalb für wahrscheinlich, dass die Beschwerden entstanden, weil Coronaviren andere Viren reaktiviert haben, die Beier seit einer früheren Epstein-Barr-Infektion in sich trägt.
Alles beginnt mit einem positiven PCR-Test. Beier erhält das Ergebnis im November 2020, wenige Tage, nachdem sie mit mittelschweren Erkältungssymptomen zum Arzt gegangen war. Geschmacks- und Geruchssinn fallen aus, kommen nach einer guten Woche langsam wieder, aber niemals so ganz. Nach vier Wochen sind die nachhallenden Stimmen und Geräusche in den Ohren die stärksten Anzeichen dafür, dass da etwas bleibt.
Den Versuch, wieder zu arbeiten, bricht Beier nach wenigen Tagen ab. „Ich musste jeden Satz drei, vier, fünf Mal lesen, um ihn zu verstehen, und habe nach kurzer Zeit am Bildschirm starke Kopfschmerzen bekommen“, erzählt sie heute, seit mittlerweile zweieinhalb Jahren arbeitsunfähig. In einer Nacht Anfang Dezember 2020 beginnt ihr Herz zu stolpern, Atemnot beklemmt sie – zum ersten Mal landet sie in der Notaufnahme. Atembeschwerden und drückende Kopfschmerzen, Konzentrationsprobleme und Wortfindungsstörungen, Phasen der Verwirrtheit und starke Erschöpfung, sogenannte Fatigue, werden sie fortan begleiten.
Eine Therapie für Long COVID gibt es nicht. Erst auf ihr „Bitten und Betteln“ hin habe sich Beiers Hausarzt darauf eingelassen, etwas zu versuchen, verschreibt auf ihren Wunsch schließlich Kortison. Zudem verweist er sie an mehrere Fachärzte, Physio- und Ergotherapeuten und an mehrere Long-COVID-Spezialambulanzen.
Feststellen kann der Hausarzt bei seinen Untersuchungen nichts. Ratlos, so erinnert sich die Patientin, sucht er im Katalog der Diagnosecodes nach „Fatigue“ und stößt zuerst auf psychische Erkrankungen, doch auch das trifft es nicht. „Mit jedem nicht objektivierbaren Problem gab mein Hausarzt ein bisschen auf“, erinnert sich Beier.
Anfang 2021 beginnt für Beier der Kampf mit der Bürokratie. Offenbar bereitet die Kodierung des Long-COVID-Syndroms ihrer Krankenkasse noch Probleme – jedenfalls dauert es Monate, bis Beier Krankengeld erhält. Zunächst bekommt sie noch Gehalt vom Arbeitgeber. Später versäumt er es, Verdienstbescheinigungen an die Kasse zu schicken. Immer wieder ist es die schwer erkrankte Patientin, die nachfassen muss.
Ihr erster Besuch in einer Long-COVID-Ambulanz endet ohne Ergebnis. Im Untersuchungsbericht findet sich kaum mehr als der Hinweis auf die Adresse einer lokalen Selbsthilfegruppe. Was sagt es über ein Gesundheitssystem aus, wenn eine Uniklinik einer Schwerkranken nichts Besseres empfehlen kann, als sich an andere Schwerkranke zu wenden?
Ihr Hausarzt merkt, dass die einst so energiegeladene Frau nicht auf die Beine kommt, überweist sie an weitere Spezialkliniken – mehrere Monate lang
wird sie,
wie so viele, auf Termine warten müssen. Bringen werden sie ihr nichts: „Wir haben dort gemeinsam das Problem bewundert, aber einen Tipp habe ich nicht bekommen.“
Durch einen Hashtag auf Twitter setzte sich zu Beginn der Pandemie zunächst der Begriff »Long COVID« durch – als Sammelbegriff für Beschwerden, die nach der akuten Infektionsphase über vier Wochen hinaus bestehen bleiben oder die nach eigentlich überstandener Erkrankung neu auftreten. In der Fachliteratur hat sich mittlerweile hingegen »Post COVID« als Bezeichnung für Beschwerden durchgesetzt, die zwölf Wochen nach der akuten Erkrankung fortbestehen oder sich erst dann entwickeln.
In einer Konsensdefinition der Weltgesundheitsorganisation wird das Post-COVID-Syndrom als postvirale Symptomatik beschrieben, die sich drei Monate nach Beginn einer Corona-Infektion zeigt, mindestens zwei Monate lang bestehen bleibt und nicht durch eine andere Diagnose erklärbar ist. In Medien und sozialen Netzwerken hält sich das Schlagwort „Long COVID“ bis heute als Oberbegriff für alle anhaltenden Probleme infolge einer COVID-19-Erkrankung. Auch in der Selbsthilfe ist er etwa als Name der Organisation Long COVID Deutschland etabliert. Da dieser Artikel mit der Begriffsfindung in den sozialen Medien beginnt, verwenden wir zur Vereinfachung hier durchgehend die Bezeichnung Long COVID.
Bis heute sind die Krankheitsmechanismen von Long COVID nicht geklärt. Studien haben jedoch Hinweise auf eine Reihe möglicher organischer Ursachen geliefert: Demnach können persistierende Virusreste, Autoimmunprozesse, Veränderungen im Darm-Mikrobiom, Endothelschäden an Blutgefäßen sowie chronische Entzündungen in Gefäßen und am zentralen Nervensystem an der Entstehung von Long-COVID-Symptomen beteiligt sein. Auch eine Aktivierung von Viren gilt als mögliche Ursache – vor allem des Epstein-Barr-Virus, mit dem sich die meisten Erwachsenen im Laufe ihres Lebens infizieren, oftmals unbemerkt.
Auch mehr als drei Jahre nach Beginn der Pandemie ist die Erkenntnislage zu den Langzeitfolgen noch immer unbefriedigend. „Die genaue Häufigkeit von Long COVID kann weiterhin nicht verlässlich geschätzt werden“, heißt es beim Robert Koch-Institut (RKI). Es verweist auf Studien aus Deutschland, denen zufolge sechs Prozent oder mehr der Corona-Infizierten postvirale Beschwerden entwickeln. Die Ergebnisse sind jedoch mit Unsicherheiten behaftet.
In den Medien kursieren immer wieder unterschiedlichste Angaben, die die Zahl der Betroffenen vermeintlich exakt benennen. Alle Quellen haben jedoch Faktoren unberücksichtigt gelassen, die je nach Methode eine Über- oder Untererfassung befördern – zuverlässige Zahlen gibt es also nicht.
Fest steht hingegen fest, dass Frauen signifikant häufiger erkranken als Männer und dass Rauchen und Übergewicht zu den Risikofaktoren gehören. Als besten Schutz vor Long COVID bezeichnet das RKI das Vermeiden von akuten Corona-Infektionen sowie von Re-Infektionen.
Während einige Long-COVID-Patient:innen eine Spontanheilung erleben, leiden andere anhaltend unter ihren Beschwerden. Nach einiger Zeit – spätestens, wenn Betroffene Rente beantragen müssen – stellt sich die Frage nach einem Reha-Aufenthalt. Für Long COVID sind mehr als 200 Symptome beschrieben, bei jedem Betroffenen zeigen sich unterschiedliche. Entsprechend individuell müssen die passenden Rehakonzepte abgestimmt sein. Bereits die Frage, ob eine Reha überhaupt das Richtige ist, wird für manche Patient:innengruppen kontrovers diskutiert. „Es gibt gewisse Hinweise, dass aktive Rehabilitationsmaßnahmen die Folgen oder Behinderungen im Rahmen des PCS [Post-COVID-Syndroms, Anm. MedWatch] verringern können, soweit kein ME/CFS besteht“, heißt es in einer Stellungnahme der Bundesärztekammer.
Die häufig postviral auftretende Multisystemerkrankung ME/CFS gilt vielen als schwerste Ausprägung von Long COVID, auch wenn dies nicht unumstritten ist. Geprägt wird sie von dem Kardinalsymptom der Postexertionellen Malaise (PEM), einer Symptomverschlimmerung bei Überanstrengung, wie sie auch bei einem überfordernden Reha-Programm auftreten kann. Es gibt viele Berichte von Patient:innen, denen eine Reha teils massiven Schaden bereitet hat. Im sächsischen Kreischa wird derzeit ein speziell auf diese Problematik ausgerichtetes Reha-Konzept entwickelt. Die Federführung hat die ME/CFS-Expertin Carmen Scheibenbogen, Immunologie-Professorin an der Berliner Charité.
Im Mai 2021 lässt sich Beier gegen COVID-19 impfen. Die Nebenwirkungen sind heftig. Wie Nadelstiche spürt sie Schmerzen am ganzen Körper, die sie zunächst gar nicht auf die Impfung zurückführt. Stattdessen geht sie von Nebenwirkungen einer hyperbaren Sauerstofftherapie aus, bei der sie im selben Zeitraum in 24 Sitzungen in einer Druckkammer reinen Sauerstoff einatmet, um regenerative Prozesse im Körper anzustoßen.
Zehn Tage nach ihrer Impfung landet Beier erneut in der Notaufnahme, als während einer Autofahrt ihr Herz zu rasen beginnt und ein Drehschwindel sie befällt. Es ist die nächste Klinik, die sie ohne Befund entlässt.
Immerhin fühlt sie sich nach der Sauerstofftherapie etwas besser. Nach Widerspruchsverfahren und Gutachten des Medizinischen Dienstes lehnt die Krankenkasse eine Kostenübernahme allerdings endgültig ab und Beier finanziert die rund 6.000 Euro dafür aus eigener Tasche. „Fast jeden Therapieversuch, der mir geholfen hat, musste ich selbst bezahlen“, sagt sie. Auf insgesamt fast 20.000 Euro werden sich ihre Kosten bis heute summieren, für Medikamente, Zuzahlungen und Laboruntersuchungen.
Auf Empfehlung ihrer Hausarztpraxis beantragt Beier schließlich eine Reha. Sie selbst ist es, die nach zahlreichen Anfragen schließlich eine Klinik findet, die sie noch im laufenden Jahr aufnimmt und alle Genehmigungen für den Aufenthalt einholt. Als sie die Kur Mitte November 2021 antritt, sind einige ihrer Symptome abgeklungen: Sie kann wieder mehrere Kilometer spazieren gehen, schwimmen und Fahrrad fahren. Zu schaffen machen ihr vor allem noch die Kopfschmerzen – in der Reha hofft sie auf einen Durchbruch. Doch unter all den schlechten Erfahrungen wird es die schlechteste. „Ich kam mit neurologischen Beschwerden und wurde zum Töpfern geschickt“, sagt Beier – und beschreibt damit noch das kleinste Problem.
Fünf Wochen lang unterzieht sie sich Sporttherapien, Motivationsförderprogrammen und einem Kurs in Selbstmanagement. Es ist ein psychotherapeutischer Ansatz – dabei gibt es nichts, was auf ein psychisches Problem hindeutet. Auch später wird eine Psychologin ihr bescheinigen, „dass keine psychische oder psychosomatische Erkrankung vorliegt“.
In der Klinik lässt sich Beier zum zweiten Mal impfen. Sie reagiert erneut, so sagt sie es, mit Fieber, Schüttelfrost, Herzrasen und schwersten Kopfschmerzen – und jenen nadelstichartigen Schmerzen, die sie bereits von der ersten Impfung kennt. Das Paul-Ehrlich-Institut (PEI), zuständig für die Erfassung von Impfschäden, erfährt nichts von den Problemen: Beim ersten Mal bringt Beier ihre Beschwerden nicht mit der Impfung zusammen, beim zweiten Mal denken weder sie noch ihre Ärzte an eine Meldung. Auch im Reha-Bericht findet sich kein Wort zu einer Impfreaktionen. Gegen die Kopfschmerzen raten die Reha-Ärzt:innen zu Pfefferminzöl. „Das hat wenig überraschend überhaupt nichts gebracht“, sagt Beier.
Zwei Tage vor Weihnachten wird sie aus der Einrichtung entlassen: „Arbeitsunfähig“, aber mit der Empfehlung für eine „stufenweise Wiedereingliederung“ in den Job von April des folgenden Jahres an. Kraft und Ausdauer hätten sich leicht verbessert, notieren die Ärzte, während Beier selbst sagt, dass das Programm ihr nicht genutzt habe, sondern sie sich danach ausgelaugt gefühlt habe. Im Bericht der Ärzte aber steht, die Patientin sei „sehr zufrieden“ mit dem Verlauf.
Eine Woche nach ihrer Entlassung landet die Patientin erneut im Krankenhaus. Auch die Beschwerden, die sich kurz nach der Impfung gezeigt hatten, sind zurück – dazu Schwindelgefühle und Übelkeit, immer wieder bleiben die Bilder, die ihre Augen ans Gehirn übertragen, einfach „stehen“.
Nach zwei Wochen verlässt sie, erneut ohne klaren Befund, das Krankenhaus. Der Reha-Aufenthalt, so sieht es Beier, hat ihr nicht nur nicht geholfen, sondern geschadet. Beschwerde gegen den Reha-Bericht legt sie nicht ein – sie kann es nicht. „Ich wusste nicht, ob ich den Januar überstehe. Meine Mutter saß damals schon verzweifelt an meinem Bett, weil wir nicht wussten, was mit mir los ist.“
2022 hat bereits begonnen. Das Jahr, in dem Fachärzte bei Beier erstmals die Diagnose ME/CFS stellen werden: Die Multisystemerkrankung, die einen Teil der Long-COVID-Betroffenen ereilt, mit den unterschiedlichsten Symptomen, aber immer mit der Post-Exertionellen Malaise, kurz PEM. Überschreiten Betroffene ihre Belastungsgrenze, kommt es zum Crash – die Symptome verschlimmern sich, manchmal dauerhaft. Für Beier ist PEM die Erklärung für das, was sie in und nach der Reha erfahren hat.
Zunächst aber beantragt sie bei ihrem Versorgungsamt einen Schwerbehindertenausweis, der ihr mit einem Grad von 40 Prozent gewährt wird, und bei ihrer Krankenkasse Pflegeleistungen. Nach wenigen Wochen wird ihr Pflegestufe 2 bewilligt. Fortan erhält Beier 316 Euro im Monat dafür, dass ihre Ehefrau die häusliche Pflege übernimmt. Noch zuvor erreicht sie ein anderes Schreiben: Ihre Krankenkasse teilt Beier mit, dass der Medizinische Dienst auf Grundlage des Reha-Berichts eine stufenweise Wiedereingliederung in den Beruf empfiehlt – ohne die Patientin selbst jemals gesehen zu haben.
Ihr Hausarzt stellt schließlich klar, dass ihr dies nicht möglich sei, allerdings erst, nachdem Beier 40 Euro für eine solche Bescheinigung bezahlt. Er überweist sie zu weiteren Spezialisten – ohne Ergebnis – und an eine neurologische Ambulanz, wo sich Beier stationär wegen ihrer Schwindelgefühle untersuchen lassen soll. Der Termin kommt nicht zustande: Die Klinik fordert eine „Einweisung“, die der Hausarzt nach dessen Aussage nicht ausstellen kann – eine „Überweisung“ aber will die Klinik nicht akzeptieren. Wieder gehen E-Mails und Telefonate hin und her, bis sich Beier schließlich an einen anderen Spezialisten wendet, abermals privat bezahlt. Derweil sendet der Medizinische Dienst eine Pflegegutachterin. Sie bestätigt ihre Pflegestufe und empfiehlt Beier in ihrem Bericht, zum „Erhalt der Selbständigkeit“ regelmäßig Memory zu spielen.
Ende Mai 2022 meldet sich Beier arbeitslos. Ihr Arbeitsvertrag läuft zwar ungekündigt weiter, doch gibt es einen Sonderfall, das Nahtlosigkeitsarbeitslosengeld: Menschen können es trotz bestehendem Arbeitsverhältnis erhalten, wenn sie so lange krank sind, dass ihr Krankengeld ausläuft, sie aber noch keine Rente erhalten.
Der nächste Kampf mit der Bürokratie beginnt, und es mag ihr vorkommen, als hätte Kafka sich aufgemacht, die Suche nach Passierschein A 38 selbst in die Hand zu nehmen – aber erst, nachdem Godot eingetroffen ist, um mitzuhelfen. „An manchen Tagen habe ich es nur geschafft, die neuen Unterlagen zu lochen“, sagt Beier, „und da war ich wirklich stolz drauf.“
Die Posse beginnt bereits mit der Arbeitslosmeldung. Beiers Anruf reicht dem Amt nicht aus, doch eine Online-Bestätigung per digitalem Personalausweis scheitert: Das Bürgeramt hatte nach einem Umzug Beiers neue Adresse zwar per Aufkleber auf dem Ausweis angebracht, es jedoch versäumt, die digitalen Daten der Karte zu aktualisieren. Die meist bettlägerige Long-COVID-Patientin, die zwar krank ist, aber nicht arbeitslos, muss sich aufs Amt schleppen, um ihre Arbeitslosmeldung zu bestätigen.
Wenige Wochen später öffnet sie den Brief ihres „Jobvermittlers“. „Ich möchte mit Ihnen Ihre aktuelle berufliche Situation besprechen“, schreibt er und bittet Beier zu einem Termin aufs Amt, ihre Bewerbungsunterlagen möge sie doch gleich mitbringen. Nach einem längeren Telefonat überlegt er, dass ein solcher Termin „möglicherweise“ gar nicht nötig sei.
Stattdessen füllt Beier einen Gesundheitsfragebogen aus, und auch der zeigt, wie wenig ein Fall wie Long COVID vorgesehen war: Das Feld, in dem Beier ihre derzeitigen Symptome aufführen soll, ist so klein, dass sie weit über den Rand hinaus schreiben muss. In der Rubrik „Behandelnde Ärzte“ sind bis zu drei Einträge vorgesehen – Beier fügt eine Anlage an und notiert darauf neun aktuelle und zehn frühere Praxen.
Eine weitere Station kann sie im August 2022 auf ihre Liste setzen: Von ihrer Schwester lässt sie sich 450 Kilometer durch die Republik fahren, um ein weiteres Uniklinikum aufzusuchen. Doch die neurologischen Untersuchungen dort liefern keine organischen Befunde, die eine kausale Therapie aufzeigen können, sondern allenfalls Ideen. Auch das ist ein kaum beachtetes Problem der COVID-19-Langzeitfolgen: Patient:innen mäandern durch das Gesundheitswesen, sie überfluten Arztpraxen mit Terminen, wo sie die immergleichen Untersuchungen mit den immergleichen Ergebnissen über sich ergehen lassen, ohne wirklich Hilfe zu erhalten.
Ein Ratschlag der Uniklinik lautet erneut: Pfefferminzöl. Um einen weiteren Therapieversuch muss Beier kämpfen: Ein entzündungshemmendes Antidepressivum, das immer wieder bei Long-COVID-Betroffenen zum Einsatz kommt, will ihr Hausarzt trotz der Empfehlung der Uniklinik zunächst nicht off-label verschreiben. Nach einer Weile lässt er sich darauf ein, der Patientin eine Angststörung zu diagnostizieren, die sie aus Sicht des Arztes gar nicht hat. So rechtfertigt er es, das Rezept auszustellen.
Nach Beiers Rückkehr aus der Uniklinik meldet sich der Jobvermittler erneut. Man habe ein ärztliches Gutachten angefertigt, teilt er mit. „Ohne Kundenkontakt“, also ohne die Patientin je gesehen oder gesprochen zu haben, bescheinigt ihr ein Amtsarzt, „täglich 6 Stunden und mehr“ arbeiten zu können – zu dieser Zeit kann sie nicht mehr als zwei Stunden am Stück sitzen. Ihr fällt jetzt auf die Füße, so sieht sie es, dass sie nicht die Kraft aufbringen konnte, gegen den allzu positiven Reha-Bericht Beschwerde einzulegen.
Erst auf ihre Nachfrage hin erhält Beier das Gutachten der Arbeitsagentur zugesandt – zumindest einen Teil davon. Der andere Teil, der medizinische Diagnosen und Erörterungen enthalten soll, unterliege dem Datenschutz und verbleibe daher im Amt, teilt man ihr mit. In einem Videocall mit dem Jobvermittler äußert Beier ihren Unmut. Der aber fragt danach, welche Arbeit die Naturwissenschaftlerin, die nichts lieber als in ihren Job in der klinischen Forschung zurückkehren würde, sich nun vorstellen könnte. Vielleicht könnte „Pförtnerin“ passen, überlegt er schließlich, so berichtet es Beier.
Es kostet sie Wochen, bis sich der Amtsarzt auf eine erneute Prüfung der Befunde und Unterlagen der behandelnden Ärzte einlässt und ein neues Gutachten erstellt, das Beier schließlich als arbeitsunfähig einstuft. Erst nach mehr als vier Monaten, im Januar 2023, wird sie es erhalten – auf Nachfrage.
Doch Ruhe kehrt auch jetzt nicht ein: Auf Empfehlung eines Facharztes, einen Behinderungsgrad von 70 Prozent anzuerkennen, hebt das Versorgungsamt ihn von 40 auf 50 Prozent an. Gleichzeitig muss Beier aufpassen, ihre Pflichten gegenüber der Pflegekasse nicht zu versäumen: Alle sechs Monate muss sie sich, da sie von einer Angehörigen gepflegt wird, um einen „Beratungstermin“ kümmern. Man wolle schauen, „ob Sie nicht verwahrlosen, während Ihre Angehörigen Ihr Pflegegeld bekommen“, erklärt ihr die Beraterin.
Auch ihr Kampf mit der Arbeitsagentur ist nicht zu Ende. Im September 2022 fordert sie Beier auf, ein Formular auszufüllen, mit dem sie ihre Erwerbsminderungsrente beantragen kann – für den Fall ihrer Reha-Unfähigkeit. Ohne die Betroffene zu informieren, nimmt die Behörde das Formular jedoch zum Anlass, eine erneute Reha-Maßnahme bei der Rentenversicherung zu beantragen. Prompt liegt die „Einladung“ einer Klinik im Briefkasten. Welche Ziele die Reha verfolgen soll, stimmt niemand mit ihr oder ihren Ärzten ab; erneut soll es ein psychosomatischer Ansatz sein, wie Beier erst auf mehrfache Nachfrage bei der Klinik erfährt.
Ende Januar 2023 landet Beier zum dritten Mal in der Notaufnahme, dieses Mal nach einem Kollaps zu Hause. Kurz darauf setzt die Pflegekasse ihre Pflegestufe auf 1 herab, weil ihr das Treppensteigen „nun langsam mit Festhalten und Pausen, jedoch eigenständig“ gelingt, wie es in einem neuen Pflegegutachten heißt – erstellt nach einem Hausbesuch bei Beier. Nach langem Hin und Her zwischen Arbeitsagentur und Rentenversicherung, die beide die jeweils andere Behörde als zuständig betrachten, gelingt es Beier schließlich, mithilfe einer ärztlichen Reha-Unfähigkeitsbescheinigung den zweiten Reha-Aufenthalt abzusagen – keine der Behörden wollte ihr allein die Frage beantworten, wie sie die Anreise zur weit entfernten Klinik hätte bewältigen sollen.
Seitdem hat sich Beiers Zustand ein wenig verbessert. Sie führt dies auf eine antivirale Therapie zurück. Mit ihrer Kasse streitet sie noch über die Kostenübernahme für Ganciclovir, ein zusätzliches antivirales Medikament, von dem sich ihre Ärztin weitere Fortschritte erhofft. Gerade wurde sie aufgefordert, umfangreiche Unterlagen zu ihren Befunden einzureichen, die die Kasse eigentlich längst besitzt.
Ob die 39-Jährige auf absehbare Zeit in ihren Beruf zurückkehren kann, ist nicht absehbar. Über ihren Rentenantrag ist noch nicht entschieden. Die Rentenversicherung hatte sie zu einer weiteren, wie sie sagt: „Fleischbeschau“ einbestellt. Als Gutachter hat die Rentenversicherung einen Psychiater bestimmt: Der gesetzlichen Vorgabe, die der Antragstellerin eigentlich „eine Wahlmöglichkeit unter drei Gutachtern einräumt“, habe man „leider […] nicht entsprechen“ können, weil „keine weiteren Gutachter zur Verfügung stehen“. Mit zwiespältigen Gefühlen hat Beier den Termin absolviert, nun wartet sie auf den Bericht.
Im Austausch mit der Long-COVID-Betroffenen mischen sich Energie und Verzweiflung, Sarkasmus und Nachdenklichkeit. Was sie gelernt habe in diesen zweieinhalb Jahren? „Das Beste ist, wenn Sie einen Hausarzt finden, der Ihnen nicht im Weg steht, der auch bereit ist, etwas auszuprobieren. Denn als Patientin habe ich nicht die Energie, ständig irgendwelche Ärzte erst davon zu überzeugen, mir zu helfen.“
Beier weiß, dass es nicht nur ihr so geht – und das ist es, was „total viel Frust und Wut“ bei ihr hinterlässt. „Wir sind so viele“, sagt sie. „Wohin soll das führen?“
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Der Text erschien zuerst bei MedWatch.de. Bild: Unsplash/Stefan Rodriguez
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