18. Mai 2023
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Es könnte eine Art Bauernregel werden: Führen die Grünen das Bundeslandwirtschaftsministerium, bekommt die Republik ein neues Bio-Siegel. Vor wenigen Tagen präsentierte der Amtschef Cem Özdemir seines: Eine staatlich verliehene Medaille für Kantinen, je nach Bio-Anteil in Gold, Silber oder Bronze. Ob irgendwer außerhalb der Öko-Branche eine solche Kennzeichnung vermisst hatte, ist zwar nicht überliefert, die Bio-Fans aber wird es freuen.
Eine geschätzt vierstellige Zahl meist privatwirtschaftlicher Siegel, Prüf- und Gütezeichen gibt es bereits für Lebensmittel, und es besteht meist eine große Einigkeit darin, dass das eher nicht zu wenige sind. Auch Politiker bemängeln immer wieder den kaum durchblickbaren „Siegeldschungel“ – erhalten sie aber qua Amt die Möglichkeit, selbst das eine oder andere Siegel einzuführen, scheint die Kritik jedoch schnell vergessen. Über die Parteigrenzen hinweg wollte in den vergangenen Jahren noch fast jeder Landwirtschaftsminister neue staatliche Label einführen. Doch gleich, ob sie die Label nur gefordert, bereits gestaltet oder gar öffentlich präsentiert hatten: Die meisten ihrer Initiativen scheiterten.
Den Anfang machte Renate Künast, die erste Landwirtschaftsministerin, die sich auch Verbraucherschutzministerin nannte. Von der BSE-Krise gerade erst ins Amt gespült, kündigte sie Anfang 2001 gleich zwei neue staatliche Siegel an: Natürlich eines für Bio-Produkte, zudem eines für Mindeststandards für Produkte aus konventioneller Landwirtschaft.
Das sechseckige Bio-Zeichen immerhin kam und ist heute wohl das bekannteste Siegel für Lebensmittel in Deutschland. Gut 100.000 Produkte von annähernd 7.000 Unternehmen dürfen es tragen. Ein wesentliches Motiv bei der Einführung war die Ungeduld Künasts: Eigentlich war ein europäisches Bio-Siegel längst beschlossene Sache, doch es würde noch Jahre dauern, bis sich die EU-Staaten auf ein einheitliches Logo einigen konnten. Es kam 2010, ebenso wie sein nationales Pendant steht es für Produkte, die im Einklang mit den europäischen Öko-Vorgaben hergestellt wurden – weshalb das Künast-Label seither strenggenommen überflüssig ist. Aber, soweit eine zweite Bauernregel: Wenn ein staatliches Siegel kommt, dann kommt es, um zu bleiben.
Amtsnachfolger der grünen Agrarwende-Frontfrau wurde der CSU-Politiker Horst Seehofer. Der selbsternannte „Minister für Bananen und Kartoffeln“ regierte in einer Zeit, in der das Übergewicht zunahm, viele Lebensmittelpackungen aber noch nicht einmal im Kleingedruckten verrieten, wie viel Zucker in ihnen steckt. Europa diskutierte die in Großbritannien erfundene „Ampelkennzeichnung“, die die Nährwerte im roten, gelben oder grünen Bereich verortete – was weiten Teilen der Lebensmittelindustrie so gar nicht passte. Sie setzte auf ein eigens entwickeltes Gegenmodell, das die Zucker-, Fett- und Salzgehalte mit weniger markant mit komplexen Zahlen- und Prozentangaben mit ihrem Anteil an empfohlenen Tagesmengen darstellte. Seehofer versuchte, alles zu verbinden: Er nahm das Industriemodell, gab ihm einen eigenen Namen und strich die Angaben mit Ampelfarben an. 2007 stellte er sein „1 plus 4“-System vor („1“ für die Angabe der Kalorien auf der Frontseite der Packung und „4“ für die Angabe von vier Nährwerten auf der Rückseite). Anwenden wollten es die Lebensmittelhersteller allerdings nicht.
Weil Seehofer aber schon einmal dabei war, kündigte er noch im selben Jahr ein weiteres staatlich organisiertes Kennzeichen an: ein „Ohne Gentechnik“-Siegel. Doch die Umsetzung dauerte, und so oblag es seiner Nachfolgerin und Parteifreundin Ilse Aigner, das Siegel 2009 einzuführen – Seehofer selbst war zu diesem Zeitpunkt längst Ministerpräsident in Bayern.
Aigner war es sogar vergönnt, noch ein zweites staatliches Logo auf den Markt zu bringen: das „Regionalfenster“. 2013 kamen erste Produkte damit in den Handel, zehn Jahre später ist die Bedeutung des Logos für Produkte aus geprüft regionaler Herkunft allerdings gering. Nur rund 5.000 Lebensmittel tragen das „Fenster“, während die meisten Hersteller von Erdbeermarmeladen oder Tiefkühlpizza weiterhin mit Angaben zur Herkunft ihrer Zutaten geizen. Dass die Verbraucher nun verlässlich über regionale Produkte informiert würden, blieb ein uneingelöstes Versprechen – ein freiwilliges Siegel, selbst ein staatlich organisiertes, ersetzt eben keine Kennzeichnungspflicht für alle Produkte. Übrigens schaffte es auch Aigner nicht, alle geforderten Siegel durchzusetzen: Kaum sprach sie sich für ein EU-weites Nachhaltigkeitslogo für Fisch aus, versandete die Idee.
Ein kreisrundes Logo mit Messer und Gabel soll künftig transparent machen, wie »bio« Kantinen, Mensen oder Restaurants arbeiten. Die Gastro-Branche zeigt sich skeptisch. https://t.co/o3edTcANyU
— DER SPIEGEL (@derspiegel) May 7, 2023
Christian Schmidt, der bisher letzte Landwirtschaftsminister aus den Reihen der CSU, war der erste, der das Thema „Tierwohl“ auf die Agenda hob. Und auch er wollte die kontroverse Dauerdebatte zwischen Agrarindustrie und Tierschützern am liebsten besiegeln: Auf großer Bühne stellte er mit großem Hallo sein fertig entworfenes Tierwohl-Label bereits öffentlich vor. Es war eine Art Kreuzung des künastschen Bio-Sechsecks mit dem Trikot der deutschen Nationalelf, am Ende sollten die Verbraucher damit Fleisch von glücklicheren Tieren erkennen können. Zum Ende seiner Amtszeit aber musste Schmidt einsehen, dass daraus nichts wurde. Den Tierschutzbund und die Verbraucherzentralen habe er bereits hinter sich gehabt, berichtete er später, und am Geld für Stallumbauten und höhere Standards habe es ebenso wenig gefehlt. Gescheitert sei er an der „Organisationsmacht“ der Fleischindustrie-Länder Niedersachsen und NRW, die er in Form einer „frappierenden Blockadehaltung“ in der eigenen Fraktion zu spüren bekam: Was von Staats wegen angestoßen wurde, habe automatisch als Bedrohung für die Massenbetriebe gegolten – und sei „ohne Blick auf Verbraucher und Tierwohl“ abgelehnt worden. Ein „Schweine-Denken“, so Schmidt, das nicht wegzubekommen sei.
Nach ihm versuchte sich auch die CDU-Politikerin Julia Klöckner an einem staatlichen Tierwohlsiegel, und auch sie scheiterte. Zudem erbte die Ministerin in ihrer Amtszeit den unerfüllten Wunsch nach einer passenden Nährwertkennzeichnung. Weil sie offenbar weder eine Ampel noch ein Kennzeichnungssystem der Lebensmittelindustrie wollte, beauftragte sie 2019 das ihr unterstellte Max Rubner-Institut (MRI), in Windeseile noch ein gänzlich neues System zur Kennzeichnung von Zucker und Fett zu entwickeln – gegen dessen Willen: Die Behörde hatte gewarnt, dass sich ein wissenschaftlich fundiertes Modell nicht binnen Monaten neu erfinden ließe. Klöckner aber blieb stur und musste später zusehen, wie das MRI-Modell bei einer Verbraucherbefragung durchfiel. Es trug den sperrigen Namen „Wegweiser Ernährung“, und auch sonst war die seltsam gestaltete Anordnung bienenwabenförmiger – also wieder einmal sechseckiger – Felder voller Zahlen wenig intuitiv. Schnell verschwand es wieder in der Schublade.
Klarer Sieger in Klöckners Verbraucherbefragung war der sogenannte Nutri-Score, ein von französischen Wissenschaftlern entwickeltes System mit Ampelfarben. Es wurde schliueßlich das einzige Kennzeichen, das Klöckner in ihrer Amtszeit durchsetze, wenngleich wohl eher widerwillig und nur auf freiwilliger Basis.
Wie viele Siegel es bei Özdemir werden, ist noch nicht ausgemacht. Die Kantinen-Medaillen sind jedenfalls bereits sein zweiter Anstoß: Zuvor bereits brachte er endlich ein Siegel für Fleisch auf den Weg, und diesmal wirklich. Anstelle des „Tierwohls“ entschied er sich für eine bloße Kennzeichnung der äußeren Haltungsbedingungen, dafür aber als Pflichtlabel – betont schlicht gestaltet, weil alles andere ihm europarechtliche Probleme bereitet hätte, da eigentlich die EU für obligatorische Kennzeichnungen zuständig ist. Anders als bei Schmidt und Klöckner sieht es so aus, als könnte Özdemir sein Logo tatsächlich ins Ziel bringen.
Seit Künast gab es nur einen Landwirtschaftsminister, der kein neues Siegel vorstellte: der CSU-Politiker Hans-Peter Friedrich. Er kam Ende 2013 ins Amt, im Februar darauf war bereits Schluss. Eine Affäre aus seiner Zeit als Innenminister zwang ihn nach nur drei Monaten zum Rücktritt. Friedrich fehlte also mutmaßlich nur die Zeit für ein neues Siegel – sonst wäre da sicher etwas gekommen, tendenziell sechseckig und wahrscheinlich so, dass sich heute kaum ein Mensch noch daran erinnern würde.
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Der Text erschien zuerst in der Frankfurter Rundschau. Bild: BMEL/photothek.net
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