2. Juni 2023
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Kulinarische Themen sind für "Bild" oft ein großes Vergnügen. Abspecken mit der „Kartoffel-Diät“? Aber hallo! Und wem das nicht hilft, für den hat "Bild" ja noch die „Milch-Diät“, die „Schoki-Diät“, die „Bier-Diät“ – und die ”Ghetto-“ oder “Döner-Diät". Irgendein Experte findet sich immer, der das irgendwie begründen kann, manchmal hat er zufällig gerade sogar ein Buch zum Thema geschrieben. Je skurriler die Idee, umso gewisser die Schlagzeile. Und wo noch eine Lücke klafft, lässt "Bild" zur Not eine „Eis-Diät“ mal eben selbst „exklusiv“ entwickeln. Ein bisschen Spaß muss sein.
Schluss mit lustig ist für "Bild" allerdings, wenn "uns" jemand lieb gewonnene Nahrungsmittel – vorzugsweise: alles mit Fleisch – wegnehmen möchte. Wird es dazu gerade auch noch ein bisschen warm draußen, wie am vergangenen Wochenende ("Bild"-Wettervorhersage: „Millionen Deutsche freuen sich aufs Grillen!“), ist es noch nicht einmal vonnöten, dass "uns" jemand uns das Fleisch so richtig "wegnehmen" will. Es reicht bereits, etwas zu tun, was sich so drehen lässt, also könnte weniger Fleisch eine Folge davon sein. Also theoretisch.
Dieses Mal war dieser Jemand die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE), eine wissenschaftliche Fachgesellschaft. „Nur noch eine Wurst pro Monat für jeden!“, titelte Bild.de am Pfingstsamstag – und schob die bange Frage hinterher: „Wird Currywurst bald endgültig aus den Kantinen verbannt?“
Die Antwort darauf natürlich: Nein. Womit eigentlich schon alles gesagt wäre. Doch weil "Bild", wenn es ums Essen geht, im Kulturkampf ist, lohnt ein näherer Blick auf die Details der Geschichte – und auf das, was aus der Meldung wurde.
Die vom Bundesernährungsministerium (BMEL) geförderte DGE
überarbeitet gerade ihre „lebensmittelbezogenen Ernährungsempfehlungen“. Laut "Bild" will sie „den Bundesbürgern einen radikalen Fleischverzicht nahelegen“ – so stehe das in den „Auszügen“ eines „internen Dokuments“, denen zufolge die DGE eine „Höchstgrenze von gerade einmal zehn Gramm Fleisch pro Tag“ festlegen möchte. Was umgerechnet bedeute: „Pro Bürger wäre nur noch eine Currywurst pro Monat drin!“ Und das alles, weil die DGE ihre Empfehlungen nicht mehr nur an der menschlichen Gesundheit, sondern auch an Umweltaspekten ausrichte.
Das ist in dieser Zuspitzung natürlich Quatsch. Auf Anfrage erklärt die DGE, es gebe derzeit weder eine neue Empfehlung noch einen Entwurf dafür. In einem Konsultationsprozess habe man Fachkreisen und Wirtschaftsverbänden (wie sie auch im Bild.de-Text ausführlich zitiert wurden) verschiedene wissenschaftliche Methoden zur Errechnung der Ernährungsempfehlungen vorgestellt, die gesundheitliche und ökologische Aspekte vereinen. Eines der Rechenmodelle habe dabei tatsächlich zehn Gramm Fleisch pro Tag ergeben – doch eine „Empfehlung“ ist das noch lange nicht. Bisher hat sich die DGE nach eigenen Angaben noch nicht einmal auf eine Methodik festgelegt.
In einer Twitter-Diskussion macht die Fachgesellschaft gar keinen Hehl daraus, dass sie künftig wahrscheinlich ein höheren Anteil pflanzlicher Nahrungsmittel empfehlen wird als bisher. Ernsthaft überraschen kann das niemanden: In der Wissenschaft besteht ein breiter Konsens, dass eine Ernährung, die gleichermaßen gesund für uns und für den Planeten ist, mit deutlich weniger Fleisch auskommt. Dass sich die DGE auch um Nachhaltigkeitsaspekte kümmert, ist ebenfalls keineswegs neu.
Was sich im Ableitungsprozess bereits abzeichnet ist, dass unsere Empfehlungen zukünftig einen noch höheren Anteil an pflanzlichen Lebensmitteln enthalten werden, da diese gleichzeitig gut für die menschliche und planetare Gesundheit sind.
— DGE Deutsche Gesellschaft für Ernährung e. V. (@dge_wissen) May 27, 2023
Aber weil das Bundesernährungsministerium gerade von den konstant unter Ideologie-Verdacht stehenden Grünen geführt wird, passt es eben so schön ins narrative Konzept: Robert Habeck, der uns die Gasheizung rausreißt oder gleich ganz das Heizen verbietet – und Cem Özdemir, der uns die Currywurst vom Teller nimmt.
„Brisant“ findet "Bild" den ganzen Vorgang in ihrer Fleischeslust denn auch vor allem aus einem Grund: Weil die DGE-Empfehlungen „noch in diesem Jahr in die neue Ernährungsstrategie“ Özdemirs einfließen und damit „quasi amtlich werden“ sollen. Zwar räumt der "Bild"-Text ein, dass „sich per se keiner an die Richtlinie [gemeint ist: Empfehlung] halten“ müsse – „doch Kantinenbetreiber könnten dazu faktisch gezwungen werden, wenn sie ihr DGE-Zertifikat behalten wollen“.
Spätestens an dieser Stelle ist die "Bild"-Geschichte arg frei konstruiert, um überhaupt eine Geschichte zu sein. Offenbar soll alles nach viel mehr klingen („quasi amtlich“), als es ist.
Denn dass sich Politik nach wissenschaftlichen Empfehlungen richten will, wie Özdemir in seinem Eckpunktepapier zur Ernährungsstrategie ankündigt, ist eher trivial denn brisant. In die Zusammenarbeit zwischen DGE und BMEL lässt auch nicht allzu viel hineingeheimnissen: Ja, das Ministerium gehört zu den Finanziers der Fachgesellschaft und hat laut Satzung Stimmrechte in den Gremien der DGE – die ihre Positionen jedoch nach transparenten wissenschaftlichen Daten erarbeiten muss. Was auch für die „lebensmittelbezogenen Ernährungsempfehlungen“ gilt, deren stete Überarbeitung das Ministerium unter Özdemir genauso fördert wie bereits unter den – nicht-grünen! – Özdemir-Vorgänger:innen, zuletzt unter Julia Klöckner von der CDU.
Vor allem aber bleiben die Empfehlungen immer noch eines: „Empfehlungen“. Solche gibt es schon lange – ohne, dass sie irgendjemanden groß gestört hätten. Bisher liegt die DGE-Empfehlung bei „nicht mehr als 300 bis 600 g [Fleisch] pro Woche“. Obwohl der tatsächlich Fleischkonsum im vergangenen Jahr so niedrig war wie seit Jahrzehnten nicht, lag er immer noch bei fast einem Kilogramm pro Woche. Was die DGE aus wissenschaftlichen Gründen rät, ist eben nur das eine Ende der Wurst. Was die Menschen damit machen, ein ganz anderes.
Daran ändert auch die Sache mit den Kantinen („faktischer Zwang“) nichts. Was "Bild" nicht erwähnt: Bisher tragen nach DGE-Angaben bundesweit gerade einmal lächerliche 172 Betriebskantinen das Zertifikat der Fachgesellschaft. Auch für "Bild" dürfte es gar nicht so einfach sein, eine solche ausfindig zu machen.
Die Kantinen von Axel Springer – „mehrfach ausgezeichnet“ und mit einem hohen veganen/vegetarischen Anteil, wie ein Verlagssprecher auf Anfrage mitteilt – sind jedenfalls „nicht DGE-zertifiziert“. Auch all jene Kantinen, die bereits heute, aus freien Stücken, keine Currywurst auf ihren Speiseplan schreiben, tragen mit größter Wahrscheinlichkeit kein DGE-Siegel und haben sich völlig frei von „faktischen Zwängen“ so entschieden. Umgekehrt könnten sie das Zertifikat jedoch auch dann bekommen, wenn sie Currywurst anbieten, solange das Angebot nur insgesamt ausgewogen ist – heute wie in Zukunft. Das zu ändern, ist nicht geplant.
Mit dem konstruierten Kantinen-Dreh und wegen des Seitenhiebs auf die Grünen aber schaffte es die verquere "Bild"-Meldung, die Runde zu machen. Schon auf Bild.de zeigt sich die Hauptgeschäftsführerin des Fleischverbands überraschenderweise „entsetzt“, und der „CDU-Ernährungsexperte Albert Stegemann“ (der, was unerwähnt bleibt, Landwirt und Viehvermarkter ist) warnt, die DGE dürfe nicht „für eine bevormundende Ernährungspolitik eingespannt“ werden. „Focus Online“ kaute die "Bild"-Gesichte ebenso nach wie die „Berliner Zeitung“, der Journalist Boris Reitschuster natürlich auch, er schreibt: „Schon wieder eine Bevormundung geplant“.
Stille-Post-mäßig setzen viele Medien noch einen drauf. Das Portal „News.de“ fabuliert etwas von „Fleisch-Rationierung“, beim Ippen-Digital-Angebot „Merkur“ heißt es falsch, dass Kantinen an die DGE-Empfehlungen gebunden wären („Kantinen müssten Fleischangebot reduzieren“), fragt „Kommt jetzt ein Currywurst-Verbot?“ – und das alles, obwohl die Currywurst doch ein „sehr wichtiger Bestandteil deutscher Essenskultur“ sei. Der „Express“ macht aus allem gar einen „Regierungsplan“.
So entsteht eine Melange aus Clickbait- und politischen Kampfartikeln, mit denen Medien sich zum Teil eines politischen Lagers machen, das seine Gegner bekämpft. Auf eine gemeinsame Faktenbasis kann man sich da kaum noch verständigen, jeder glaubt einfach an seine eigene Wahrheit; wie an das Narrativ der übergriffigen Grünen, die alles verbieten wollen, was Spaß macht. Dass es kein Grüner, sondern eine Fachgesellschaft ist, die wissenschaftliche Empfehlungen vorbereitet: pfffft.
Spätestens mit den politischen Reaktionen verselbständigt sich dieses Narrativ.
Warum soll immer alles verboten werden? Was die Menschen essen, sollen sie selber bestimmen. Wir leben in einer Demokratie. https://t.co/1JwtZ5JmrY
— Markus Söder (@Markus_Soeder) May 27, 2023
Ernährungsempfehlung für Fleisch von derzeit ca 100 Gramm pro Tag soll auf 10 g reduziert werden. Bald dann noch 1 Gramm = 1 Mehlwurm, verabreicht mit den Tabletten gegen Mangelernährung.Und die Ampel-„Bundesruinierung“ trägt den Mist mit. #AmpelMussWeg https://t.co/zQjceRNHkJ
— Hubert Aiwanger (@HubertAiwanger) May 27, 2023
„Warum soll immer alles verboten werden?“, kommentierte CSU-Chef Markus Söder auf Twitter die Meldung, die nichts mit einem Verbot zu tun hat, aber: „Was die Menschen essen, sollen sie selber bestimmen. Wir leben in einer Demokratie.“ Bayerns Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger setzte noch einen drauf: „Bald dann noch 1 Gramm = 1 Mehlwurm, verabreicht mit den Tabletten gegen Mangelernährung“, twitterte er, offenbar bei der Verarbeitung seiner Insektenphobie noch nicht weit fortgeschritten. (Die Phobie rührte von einer EU-Zulassung für Insektenprodukte her, was bereitwillig dahingehend fehlinterpretiert wurde, dass uns Insekten ohne Kennzeichnung sogar in veganen Lebensmitteln untergemischt werden dürften – auch das natürlich eine Ente.)
Und wenn man denkt, wurstiger geht’s nicht mehr, bekommt von irgendwoher auch noch Tichy seinen „Einblick“ in die grüne Seite der Macht. „Fleischverzicht wird offizielle Richtlinie“, heißt es in dem rechtspopulistischen Onlinemagazin auf Basis der "Bild"-Meldung: „Nur noch EINE Scheibe Wurst pro Tag – dafür mehr Insekten“. Wobei man sich nicht einmal die Mühe macht, das mit den Insekten herzuleiten – es steht da einfach wie ein Fakt.
Am Ende jedenfalls droht bei Tichy der „grüne Totalüberwachungsstaat“, denn: „Es geht wohl wie beim Wärmepumpengebot und Verbrennerverbot hauptsächlich um den Machtanspruch einer grünen Elite: Die Bürger sollen auf allen Ebenen ihrer Entscheidungsfreiheit beraubt werden. Was sie essen, wie sie heizen, wie und wohin sie fahren – der Staat entscheidet, kontrolliert und überwacht jede, aber auch jede Lebensäußerung. Freiheit wird zu einem theoretischen Konstrukt.“
Und wer weiß, vielleicht wird auch die Currywurst in den Kantinen eines fernen Tages wirklich nur noch ein theoretisches Konstrukt sein. Enten werden dann wohl die einzigen Tiere sein, die uns ganz sicher auch dann noch reichlich aufgetischt werden.
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Der Text erschien zuerst bei Uebermedien.de. Bild: mr
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