5. Juni 2023
Diesen Artikel können Sie kostenlos lesen, doch Journalismus ist nicht umsonst.
Wenn Ihnen der Text gefällt: Bitte helfen Sie mir mit Ihrer Spende, weitere Recherchen wie diese zu finanzieren.
Groß war die Aufregung, als die radikalen Klima-Aktivisten der „Letzen Generation“ einen „Gesellschaftsrat“ zur Klimapolitik verlangten. Als „undemokratisch“, ja als Angriff auf unser repräsentatives System stuften Vertreter der FDP diese Forderung ein. Nun haben sie im Bundestag gemeinsam mit ihren Regierungspartnern SPD und Grünen und unterstützt von den Linken selbst beschlossen, einen Bürgerrat einzuführen – nicht zur Klima-, sondern zur Ernährungspolitik. Die Ampelparteien setzen damit eine Verabredung ihres Koalitionsvertrages um, die so mancher in der reflexhaften Aufregung über die „Klima-Kleber“ allzu gern vergessen hatte.
Überhaupt täte weniger Aufregung gut. Denn richtig eingesetzt, ist das Instrument des Bürgerrates kein Angriff auf den Parlamentarismus, sondern ein Mittel, die Demokratie und ihre Wehrhaftigkeit zu stärken.
Die Idee eines Bürgerrates ist simpel: Eine möglichst repräsentative, zufällig ausgeloste Gruppe von Menschen kommt über einen längeren Zeitpunkt regelmäßig zusammen, erhält Informationen sowie Räume zur Diskussion und erarbeitet gemeinsam Lösungen für gesellschaftliche Probleme. Die Ernährungspolitik ist dafür wie geschaffen, weil sie von gewaltigen ideologischen Gräben durchzogen ist. Anders als in Expertenkommissionen ist keiner der 160 Gelosten ein Lobbyist, der für die Durchsetzung von Interessen bezahlt wird. Jeder ist er selbst, und zwischen diesen Bürgern kann etwas Wunderbares entstehen: Dann nämlich, wenn sich der vegane Klimaschützer aus der Großstadt mit dem konventionellen Massentierhalter an einem Tisch wiederfindet. Zwei Menschen, die ansonsten gerne über- oder gegeneinander reden, aber selten miteinander.
Eine Utopie? Keineswegs. Erfahrungen aus Irland zeigen, wie kraftvoll solche Prozesse sein können. Vor wenigen Jahren hatte das konservativ geprägte Land noch eines der weltweit restriktivsten Abtreibungsrechte. Kaum ein Politiker, der nicht als linker Spinner gelten wollte, traute sich an eine Reform. Bis ein Bürgerrat nach intensiver und kontroverser Debatte ein weitaus liberaleres Recht vorschlug. Es glich einer Revolution, doch sie kam – was in Irland eine Verfassungsänderung voraussetzt, die wiederum dem Volk zur Abstimmung vorgelegt werden musste. 2018 bestätigten darin zwei Drittel der Wähler zur Überraschung vieler den liberalen Vorschlag des Bürgerrates. Der hatte wesentlich dazu beigetragen, einen tiefsitzenden gesellschaftlichen Konflikt zu befrieden.
Von diesen gibt es auch in Deutschland einige, und gerade da fallen die Schwächen der parlamentarischen Demokratie mit ihren koalitionären Kompromissen und Fraktionszwängen am schwersten ins Gewicht. Wie viele Themen gibt es, bei denen sich strukturelle, gesellschaftliche Mehrheiten für eine bestimmte Position nie in eine Mehrheit innerhalb eines Regierungsbündnisses übersetzen lassen, weil immer einer der Koalitionspartner dies verhindert? Wie oft reicht es politisch nur zum kleinsten gemeinsamen Nenner, ohne die Probleme der Menschen wirklich zu lösen? Und wie groß ist der Verdruss, wenn Wähler das Gefühl beschleicht, es werden an ihren Interessen vorbeiregiert, während sie nur einmal in vier Jahren mitsprechen dürfen?
Nicht für kurzfristige Entscheidungen und kleinteilige Verordnungsentwürfe sind Bürgerräte geeignete Beteiligungsinstrumente – wohl aber für gesellschaftliche Konfliktthemen mit komplexen Interessenslagen. Die verdrängte Aufarbeitung des Corona-Managements gehörte in einen Bürgerrat, die Klima- und auch die Ernährungspolitik. Der gestrige Beschluss des Bundestages allerdings hat einen Schönheitsfehler: Längst hat die Bundesregierung selbst begonnen, in exekutiven Runden eine „Ernährungsstrategie“ zu erarbeiten. Was also, wenn der Bürgerrat den Koalitionsplänen widerspricht – oder umgekehrt?
Bürgerräte dienen nicht der Show. Glaubwürdig sind sie, wenn sie mehr sein dürfen als Debattierclubs – wenn sie Konsequenzen haben. Deshalb spricht vieles dafür, dass Bürgerräte künftig nicht nur vom Bundestag einberufen werden können, sondern auch von unten, per Bürgerbegehren. Vor allem sollten sie mit der Option auf direktdemokratische Entscheidungen verknüpft sein: Bürgerräte brauchen konsequenterweise auch den Volksentscheid auf Bundesebene. Er muss dann zum Tragen kommen, wenn das Parlament die Vorschläge des Gremiums erkennbar und zum Unmut gesellschaftlicher Mehrheiten missachtet – denn dies würde den Demokratieverdruss weiter befördern.
Jeder überzeugte Parlamentarier sollte also rufen: Auf in die Räte-Republik! Denn richtig gestaltet, sind Bürgerräte keine Bedrohung für das repräsentative System – sie könnten es stärken, indem es seine Schwächen ausgleicht. Das Vertrauen in ein Parlament wird steigen, wenn es bereit ist, Menschen zu beteiligen und Prozesse zu organisieren, die dort Kompromisse finden, wo gesellschaftliche Konflikte jahrelang schwelen.
Diesen Artikel können Sie kostenlos lesen, doch Journalismus ist nicht umsonst.
Wenn es Ihnen der Text gefällt: Bitte helfen Sie mir mit Ihrer Spende, weitere Recherchen wie diese zu finanzieren.
Der Text erschien zuerst in der Frankfurter Rundschau.
Bild: Probe-Bürgerrat Demokratie, Treffen in Leipzig (2019) – Foto: Mehr Demokratie e.V.
Mit meinem kostenlosen E-Mail-Newsletter informiere ich Sie über meine Arbeit und spannende Entwicklungen im Bereich der Verbraucherschutz-, Gesundheits- und Ernährungspolitik. Eine Abmeldung ist jederzeit möglich.