10. Januar 2023
Als die damalige Bundesernährungsministerin Julia Klöckner neben 72 weiteren Regierungsvertretern aus aller Welt ihre Unterschrift unter die Verpflichtungserklärung setzte, waren ihre Tage im Amt bereits gezählt. An vielen Orten der Welt hatte die Corona-Pandemie zu Schulschließungen geführt und Kinder, vor allem armutsbetroffene, um ein warmes Mittagessen gebracht. Eine neue internationale School Meals Coalition nahm dies auf Initiative Finnlands und Frankreichs zum Anlass, die Ernährungsbedürfnisse der Kinder ins Blickfeld zu rücken. Das Ziel der „Schulessen-Koalition“: gesunde Ernährung, und zwar „jeden Tag für jedes Kind“.
Schulmahlzeiten unterstützten das Lernen, das langfristige Wohlbefinden und die Gesundheit der Kinder, heißt es in dem Manifest, das Klöckner im vergangenen Sommer unterzeichnete. Damit bestätigte die CDU-Politikerin, dass Deutschland bis spätestens 2030 eine Vision verwirklichen werde: Jedes Kind solle die Möglichkeit erhalten, „eine gesunde und nahrhafte Mahlzeit in der Schule zu genießen, die die volle Entfaltung seines persönlichen Potenzials unterstützt“.
Nicht wegen dieses Ziels überrascht Klöckners Unterschrift. Sondern wegen der Verpflichtung, die die Bundesministerin einging. Als solche war sie gar nicht zuständig für die Schulverpflegung – die ist in Deutschland Ländersache.
Nachfrage im Bundesernährungsministerium, inzwischen unter Führung des Grünen Cem Özdemir: War der Beitritt Deutschlands zur School Meals Coalition mit den Bundesländern abgestimmt? Hat Klöckner Ideen hinterlassen, wie sie die Verpflichtungen trotz fehlender Befugnisse umsetzen wollte? Ließ Özdemirs Vorgängerin den in der Erklärung genannten „Langzeitplan“ noch erarbeiten oder wenigstens vorbereiten?
Anscheinend nicht. Ein Ministeriumssprecher hält sich zu den konkreten Fragen weitgehend bedeckt, nur so viel: Eine Abstimmung sei nicht mit den Bundesländern, sondern mit dem Auswärtigen Amt und dem Bundesentwicklungsministerium erfolgt. Das zeigt, wie die Ziele der Koalition gesehen wurden: Offenbar vor allem als Problem anderer Erdteile.
Anstelle von konkreten Plänen für gesundes Schulessen in Deutschland verweist Özdemirs Sprecher denn auch auf die „übergeordneten internationalen Ziele“ der School Meals Coalition, weshalb Deutschland den „internationalen Erfahrungsaustausch“ und Schulernährungsprogramme „in ernährungsunsicheren Ländern“ unterstützen werde. Zweifellos ist die Ernährungssituation von Kindern dort weitaus prekärer als in Deutschland – doch das Bündnis und damit auch Klöckners Verpflichtung zielt nicht ohne Grund ausdrücklich auf eine ausgewogene Ernährung und eine bessere Schulverpflegung „in allen Ländern“ ab.
Hier gäbe es auch in Deutschland genügend zu tun. 15 Prozent der Kinder in Deutschland gelten als übergewichtig, sechs Prozent sogar als fettleibig – zahlreiche chronische Krankheiten wie Diabetes und Herz-Kreislaufbeschwerden nehmen hier ihren Ursprung. Auch eine schlechtere körperliche und geistige Entwicklung sowie ein schwächeres Immunsystem führen Ernährungsexperten darauf zurück, dass Kinder – vor allem solche aus armutsbetroffenen Haushalten – zwar mehr als genügend Kalorien, aber zu wenige Vitamine und Mineralstoffe erhalten. Die Kantinen der Gemeinschaftsverpflegung gelten vielen als Schlüssel für einen Wandel.
Gut zwei Jahre ist es her, dass der Wissenschaftliche Beirat des Ministeriums einen „Systemwechsel in der Kita- und Schulverpflegung“ forderte. Als „zu schlecht“ bewerteten die Professor:innen die überwiegend angebotene Qualität: Es gebe deutlich zu wenig Gemüse, Rohkost oder Vollkornprodukte, auch sei das „Essumfeld“ oft „wenig attraktiv“.
Abhilfe schaffen sollen die Qualitätsstandards für Schul- und Kitaverpflegung, die die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) im Auftrag der Bundesregierung bereits vor mehr als zehn Jahren entwickelt hat. Doch nur einzelne Bundesländer schreiben sie verbindlich vor, vielen Einrichtungen sind sie unbekannt. Die meisten Schulträger vereinbaren noch nicht einmal eine Leistungsbeschreibung für die Essensanbieter, ergab eine DGE-Studie Ende 2019.
Was der Wissenschaftliche Beirat des Bundesernährungsministeriums unter „Systemwechsel“ versteht, führte er in seinem Gutachten von 2020 aus: Wenigstens 5,5 Milliarden Euro staatliche Mehrausgaben veranschlagte er bundesweit und jährlich für die Schul- und Kitaverpflegung. Neben verpflichtenden Qualitätsstandards forderten die Professoren Investitionen in Mensen – und ein „beitragsfreies Mittagessen“ für alle Kinder.
Was für Eltern wie ein Geschenk, für manchen Haushälter eher wie ein unfinanzierbarer Wunschtraum klingen dürfte, wäre gesamtgesellschaftlich betrachtet wohl ein gutes Geschäft. Das legen Erfahrungen aus Schweden nahe.
Dort begann der Staat bereits in den 1940er-Jahren damit, an Schulen ein kostenloses, gesundes Mittagessen anzubieten. In Langzeitstudien beschreiben Wissenschaftler dies als bemerkenswerte Erfolgsgeschichte: Erwachsene, die im Laufe ihrer gesamten Schulzeit ein solches Mittagessens erhalten hatten, waren größer, gesünder, erreichten einen höheren Bildungsstand und folglich ein um drei Prozent höheres Lebenseinkommen als Menschen, denen der Zugang zum Schulessen fehlte. Als besonders positiv erwies sich der Effekt für Kinder aus ärmeren Haushalten.
Das Problem aber scheint: Der finanzielle Benefit – sei es durch niedrigere Gesundheitskosten, eine größere Produktivität oder höhere Steuereinnahmen – ist zwar erwartbar. Er entsteht jedoch zeitverzögert und nicht in den Kassen derer, die die Investitionen tätigen müssten: bei den Schulträgern. Die vorherrschenden Themen dort aber sind die gegenwärtige Rekordinflation und der Druck der Eltern, die ihren Beitrag zum Mittagessen nicht allzu steil wachsen sehen möchten.
Einen Ansatz, um Eltern und Anbieter vom Kostendruck zu entlasten, verfolgt Berlin seit einigen Jahren. Die Hauptstadt schreibt die DGE-Standards verbindlich vor, bietet allen Grundschülern ein kostenloses Mittagessen an – und hat einen Festpreis definiert, um den Preiskampf der Caterer zu stoppen. In den Ausschreibungen geht es damit nicht länger vor allem um den günstigsten Preis. Doch die Inflation macht es auch den Berliner Anbietern schwer, die Qualität zu halten.
Einen neuen Weg schlug der Freiburger Gemeinderat im vergangenen Jahr ein: In den Schulen und Kitas der badischen Stadt wird es künftig ausschließlich vegetarisches Essen geben. Der Verzicht aufs Fleisch soll nicht nur dem Klima helfen, sondern auch Kosten sparen. Zu diesem Zweck entschieden die Kommunalpolitiker auch, die Auswahl zu streichen, den Kindern nur noch ein Standardessen am Tag anzubieten. Wie sich das auf die Akzeptanz des Angebots auswirkt, bleibt abzuwarten – schließlich müssen die Kinder das Essen auch annehmen, um in den Genuss einer gesunden Verpflegung zu kommen.
Auf Bundesebene hat derweil auch der amtierende Ernährungsminister die Bedeutung des Schulessens betont. Kurz vor Weihnachten stellte Özdemir erste Eckpunkte seiner „Ernährungsstrategie“ vor. Eine solche zu erarbeiten, hatte sich das Ampelbündnis im Koalitionsvertrag vorgenommen – zunächst ohne festzulegen, welche Themen sie behandeln soll. Özdemir setzte nun die Schul- und Kitaverpflegung ganz oben auf die Liste und gab ein Ziel aus: Die Qualitätsstandards der Deutschen Gesellschaft für Ernährung müssten „verbindlich werden“. Fortan muss er dasselbe Problem bekämpfen wie Vorgängerin Klöckner: Die fehlende Zuständigkeit.
Mehr als ein „Modellregionenwettbewerb“ und „Förderprojekte für die Gemeinschaftsverpflegung“ sind Özdemir bei der Vorlage seines Eckpunktepapiers noch nicht eingefallen.
Der Text erschien zuerst in der Frankfurter Rundschau, ergänzt um ein Interview mit der Ökotrophologin und früheren DGE-Präsidentin Ulrike Arens-Azevêdo.
Foto: pixabay / Katrina S
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