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»Long Covid wurde lange unterschätzt«

Martin Rücker

»Wir brauchen mehr Geld für die Forschung«

Prof. Carmen Scheibenbogen, Leiterin des Instituts für Med. Immunologie an der Charité in Berlin, fordert größere Anstrengungen von Politik und Pharmaindustrie, um Therapien gegen Long-Covid zu entwickeln. 

11. November 2022

Frage: Wie viele Menschen sind von Long-Covid betroffen?


Prof. Carmen Scheibenbogen: In den ersten beiden Pandemiejahren hat etwa jeder zehnte Covid-Erkrankte nach der Infektion anhaltende Symptome entwickelt, die auch nach drei Monaten noch bestehen. In Einzelfällen treten sie auch in Reaktion auf eine Impfung auf. Insgesamt wissen wir aber, dass die Impfung vor Long-Covid schützt. Bei der Omikron-Variante haben Dreifach-Geimpfte ein um die Hälfte reduziertes Risiko, an Long-Covid zu erkranken. Wir reden da also über etwa fünf Prozent der Infizierten.  


Können die meisten davon ausgehen, dass Long-Covid von alleine wieder verschwindet?


Bei mehr als zwei Dritteln der Betroffenen bestehen die Symptome auch noch nach einem Jahr. Außerdem schätzen wir, dass 10 bis 20 Prozent der Long-Covid-Erkrankten das schwere Krankheitsbild ME/CFS entwickeln, das chronische Fatigue Syndrom. Fälschlicherweise wird es oft als Burnout oder Depression eingestuft.


Unter Ärzten ist umstritten, ob Long-Covid nicht vor allem eine psychosomatische Erkrankung ist.


An der Charité haben wir auch Patienten, die nach Covid Depressionen oder Angststörungen entwickeln oder verstärken. Das ist jedoch nur ein kleiner Teil. Auch vom klinischen Bild her greift es viel zu kurz, die Ursachen als überwiegend psychisch oder psychosomatisch einzustufen, nur weil man mit klassischen Untersuchungsmethoden nichts findet. Meistens lassen sich die Beschwerden der Patienten objektivieren: Bei vielen, die über Schwindel klagen, stellen wir fest, dass sich Blutdruck und Puls im Stehen nicht richtig anpassen. Bei Erschöpfung auch Fatigue genannt, ist  die Handkraft oft deutlich eingeschränkt ist. Wir sehen auch, dass bei vielen Long-Covid-Patienten im Unterschied zu anderen Covid-Genesenen das Immunsystem weiter aktiv ist, wir finden Anzeichen für Entzündungen, Autoantikörper oder eine verringerte Sauerstoffversorgung über die Gefäße.


Die Long-Covid-Ambulanzen sind überlaufen – wie steht es um die Versorgung der Betroffenen?


Die Strukturen sind überlastet und fangen viele Patienten nicht gut auf. In Berlin haben wir ein Long-Covid-Netzwerk gemeinsam mit niedergelassenen Ärzten aufgebaut und versuchen, dass die Patienten erstmal von den Hausärzten behandelt werden. Die Spezialambulanzen sollten sich dann um die chronisch und schwerer Erkrankten kümmern, und die Universitäten brauchen auch genügend Ressourcen für wichtige Forschung.


Warum steht die Forschung zu Long-Covid im dritten Pandemiejahr noch am Anfang?


Long-Covid ist lange unterschätzt worden. Es gibt in Deutschland dazu kaum Forschung, die Aufwände stehen in keinem Verhältnis zur Größe des Problems. Der Bundestag, das Forschungs- und das Gesundheitsministerium müssten viel mehr Geld für Therapiestudien bereitstellen.


Liegen die nicht auch im Interesse der Pharmaunternehmen?


Die Industrie ist sehr zögerlich. Sie scheut das finanzielle Risiko und wartet erst auf mehr Klarheit zum Krankheitsmechanismus. Ich kann an die Pharmaunternehmen nur appellieren, ihr Engagement zu verstärken, denn es ist wirklich dringend. Es braucht jetzt einen Anstoß der Politik. Der Bundesgesundheitsminister sollte einen Runden Tisch mit Pharmaindustrie und Wissenschaft einberufen, um die Forschung zu Long-Covid voranzubringen.


Immerhin hat die Charité vom Bund gerade zehn Millionen Euro dafür erhalten – was ist damit zu erreichen?


Ein Teil geht in den Aufbau von Strukturen, um überhaupt klinische Studien auf hohem Niveau durchführen zu können. Das ist nötig, weil wir es weitgehend ohne die Pharmaunternehmen hinbekommen müssen – und das Krankheitsbild ist so komplex, dass wir zum Beispiel eine sehr genaue Diagnostik und Biomarkeruntersuchungen brauchen. Mit diesen Strukturen untersuchen wir erste Therapieansätze auf ihre Wirksamkeit hin: Verfahren zur Entfernung von Antikörpern, die sich gegen gesundes Gewebe richten, und Medikamente, die bereits zugelassen sind und deshalb schnell einsetzbar wären. Dazu gehört Cortison als Entzündungshemmer und ein Medikament, das die Durchblutung verbessert. Das ist nicht mehr als ein Anfang. Wir haben eine lange Liste zugelassener Medikamente, die wir bei Long-Covid gerne testen würden. Dafür benötigen wir deutlich mehr Geld. Und wir brauchen Partner aus der Pharmaindustrie.


Das alles kann dauern. Würde Sie Patienten derweil empfehlen, sich auf eigene Kosten experimentellen Therapien zu unterziehen, etwa einer Blutwäsche?


Das kann ich nicht empfehlen. Es gibt jedoch bereits erprobte Therapieansätze, die Symptome lindern können. Inzwischen haben wir eine ärztliche Leitlinie zur Long-Covid-Behandlung. Leider müssen wir davon ausgehen, dass nicht alle Hausärzte sie kennen. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass viele Patienten – vor allem jene, die an ME/CFS erkranken – damit nicht gesund werden. Für sie müssen wir neue Therapien entwickeln.


Das Interview erschien zuerst in der Frankfurter Rundschau. Foto: Charité.

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