Immer wieder werden einzelne Lebensmittel als Wundermittel gehypt – und kurz darauf als Teufelszeug verdammt. Zeit für die Wissenschaft, aus ihrem Elfenbeinturm zu kommen.
14. November 2022
Debatten zu Ernährungsfragen laufen oftmals komplett aus dem Ruder. Kaum etwas steht dafür so beispielhaft wie der irre Streit ums Kokosöl: Zwischen Hype und Hölle lag nur ein einziges You-Tube-Video.
Was in tropischen Ländern eine traditionelle Zutat ist, dürfte den meisten Menschen hierzulande noch vor einigen Jahren fremd gewesen sein. Bis irgendwer die Idee hatte, Kokosöl zum „Superfood“ hochzujazzen, zum Wundermittel für – ja, für was eigentlich nicht? Kokosöl zum Abnehmen (nach dem Stand der Dinge: Blödsinn), Kokosöl als Booster für das Immunsystem (eher nicht), Kokosöl als Schutz vor Alzheimer (naja).
Dann kam die Uni Freiburg, verfilmte die öffentliche Vorlesung einer Professorin und lud das Ganze ins Internet. Zu sehen ist eine Medizinerin, die sich regelrecht in Rage redet: „Gefährlich“ sei Kokosöl, „eines der schlimmsten Nahrungsmittel“, vielmehr die Zutat der Wahl für einen „sicheren Herztod“ – kurzum: „reines Gift“.
Das Video ging viral. Seitdem tobt ein Glaubenskrieg, und auch darin ist das erste Opfer die Wahrheit. Zwischen Superfood und Sterbemittel kennt die Kontroverse wenig. Daran änderte es auch nichts, dass die Freiburger Professorin kurz nach ihrem You-Tube-Hit zurückruderte, wenigstens etwas: Das mit dem „reinen Gift“ sei eine „unglückliche Wortwahl“, verbreitete sie. Der Rest blieb stehen.
Solche Dynamiken wiederholen sich: Das Lebensmittel wechselt, die Ausschläge der Debatten aber sind ähnlich hoch. Ein Ende ist schon deshalb nicht in Sicht, weil sich auch in diesem Moment irgendwo irgendwer den Kopf über das nächste „Superfood“ zermartert. Machen wir uns nichts vor: Nur der Wimpernschlag einer geschickten Marketingkampagne samt einiger in der Yellow-Press beworbener Buchveröffentlichungen trennt uns davon, im Dienste der Gesundheit ekstatisch Petersilienwurzel, Betelnüsse oder Maiskolbentrester in uns hineinzustopfen.
Das Interesse daran ist groß: Die wechselnden Hypes garantieren Schlagzeilen und Umsatz. Sie treffen auf eine Gesellschaft, die in der Breite und sogar bis hinein in die Ärzteschaft noch nicht verstanden hat, in welchem Ausmaß Ernährung unsere Gesundheit und unsere Krankheiten beeinflusst. Gesund sein wollen aber natürlich viele, also nehmen wir die vermeintlich einfachen Heilsversprechen dankbar an: Rein mit dem Kokosöl in die Pfanne. Die Bio- und Reformhausbewegung mit ihrer tendenziell gesundheitsbewussteren Kundschaft befördert das bereitwillig mit und vergisst dabei sogar, dass es ökologisch eher suboptimal ist, die Nachfrage nach tropischen Zutaten und ihre Einfuhr auf weiten Transportwegen anzukurbeln. Später kommt die Gegenbewegung, und auch die verspricht zumindest Schlagzeilen. Sobald sie Zweifel sät, gibt es längst den nächsten Hype.
Die Wahrheit liegt meist in der langweiligen Mitte. So auch beim Kokosöl: Es ist nicht übermäßig gesund und enthält viele gesättigte Fettsäuren, weshalb seriöse Empfehlungen zu einem eher maßvollen Konsum raten – ein Zuviel würde auch dem Darm so manche Probleme bereiten. Geht es um die Inhaltsstoffe, sind Oliven- oder regionales Rapsöl überlegen, ökologisch sind sie es sowieso. Andersherum ist Kokosöl aber natürlich auch kein Killer. Wer den Geschmack mag, vielleicht für ein asiatisches Wok-Gericht, muss nichts befürchten. Am besten freilich greift er nur gelegentlich zu und dann zum nativen, unverarbeiteten Kokosöl und nicht zum raffinierten Kokos-Plattenfett. Nur Bücher verkaufen lassen sich mit solchen Aussagen eher nicht.
Damit kommen wir zum Kern des Ganzen: Es gibt kein „Superfood“.
Welches Lebensmittel auch vom nächsten Hype erfasst wird, wir alle – Verbraucher, Medien – sollten mehr als skeptisch sein: Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit geht es dabei nicht um unsere Gesundheit, sondern um Geschäftemacherei.
Auch wenn uns mit beinahe religiösem Eifer anderes nahegelegt wird: Ein Ablasshandel beim Essen kann nicht funktionieren. Ein paar eingeflogene Goji-Beeren im Müsli wiegen ein Übermaß an Snacks und Softdrinks und einen Mangel an Bewegung nicht auf. Gesunde Ernährung hat nichts mit Wundermitteln und Zaubertränken zu tun, sondern ist eine Dauer-Aufgabe. Je häufiger wir eine möglichst große Vielfalt möglichst wenig verarbeiteter Zutaten möglichst frisch zu bereiten, umso eher tun wir uns damit etwas Gutes. Dieses Wissen ist älter als jeder Hype.
Wenn aber die Verunsicherung der Menschen so groß ist wie das gesundheitliche Folgeproblem, das eine schlechte Ernährung verursacht, müsste eigentlich die Stunde der seriösen Wissenschaftler schlagen. Viel zu viele von ihnen verschanzen sich in ihrem Elfenbeinturm. Wir sind eine chronisch kranke Gesellschaft der Übergewichtigen, der Diabetiker und der Mangelernährten geworden – in Fachjournals haben das kompetente Forscher längst beschrieben, aber sie müssen raus in die öffentliche Arena, wie es Klimaforscher und Virologen bei „ihren“ Krisen verstanden haben.
Es bräuchte einen Christian Drosten der Ernährungswissenschaften, meinte die frühere Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Ernährung, Ulrike Arens-Azevêdo, vor einiger Zeit – eine starke, öffentlich wahrnehmbare Stimme der Forschung also.
Man muss ihr widersprechen: Ein Drosten wird dafür nicht reichen.
Dieser Text erschien zuerst auf
welt.de. Foto: pixabay/moho01
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