Großkonzerne und Investoren übernehmen eine Tierklinik nach der anderen. Auch weil Tierärzte ein Nachwuchsproblem haben, erwarten Experten einen dramatischen Wandel der Branche – was bedeutet das für die Tierbesitzer?
19. November 2022
Günter Schwarz war der erste Tierarzt in Österreich, der seine Praxis an einen internationalen Konzern verkaufte. 25 Jahre lang hatte er sein „Baby“ im beschaulichen Hollabrunn, 50 Kilometer nordwestlich von Wien, aufgebaut. Dann, mit Anfang 60, wollte er sich einer zweiten Karriere als Maler widmen – und legte seine Tierklinik 2015 in die Hände der schwedischen AniCura-Gruppe. Geplant hatte Schwarz das nicht: „Ich habe zehn Jahre lang versucht, Mitarbeiter zum Einstieg zu bewegen. Die Antwort war immer dieselbe: So viel wie du möchte ich nicht arbeiten.“ Mit dem Verkauf ebnete er AniCura den Weg in den österreichischen Markt.
In Deutschland startete das Unternehmen zur selben Zeit seinen Expansionskurs. Seit 2018 ist es im Besitz des US-Multis Mars, und bis heute kauft es Praxis um Praxis. Rund 70 Standorte hierzulande gehören mittlerweile der AniCura, etwa genauso viele dem größten Konkurrenten IVC Evidensia: einem schwedischen Finanzinvestor, an dem Nestlé eine Minderheitenbeteiligung hält. Mit weiteren Praxen sollen die Konzerne bereits Vorverträge abgeschlossen haben. Tiermedizin in Kettenhand.
Mit dem Hund also zu Dr. Mars? Viele Tierbesitzer bekommen gar nichts davon mit, wenn ihre Stamm-Praxis verkauft wurde. Name oder Logo bleiben nach der Übernahme oftmals unverändert, die bisherigen Inhaber als angestellte Geschäftsführer noch Jahre an Bord. In der Tierärzteschaft aber sind die Ketten ein heiß diskutiertes Thema – und nicht nur dort. Als Evidensia vor wenigen Monaten die wohl größte Tierklinik Deutschlands in Hofheim übernehmen wollte, prüfte das Bundeskartellamt intensiv. Den Verkauf gab es schließlich frei, weil es in der Region „genügend Ausweichalternativen“ gebe.
Die Frage ist: Wie lange noch? Neben AniCura und Evidensia, die sich vor allem große Praxen mit Millionen-Umsatz einverleiben, drängen eine ganze Reihe weiterer Investoren auf den Markt. Einige von ihnen verfolgten „das Ziel, Gruppen von mehreren Dutzend Kliniken zu bilden, die sie dann mit einem enormen Kapitalertrag verkaufen können“ – an die Großkonzerne. So fasst das hannoversche Unternehmen Smartemis die Situation zusammen. Sein Ziel sei es, Praxen zu einem Netzwerk verbinden, damit im Falle eines Verkaufes die Inhaber selbst von der „Wertsteigerung“ profitierten. Und keine Finanzjongleure.
Inmitten multipler Krisen erscheint das Geschäft mit der Tiermedizin wie ein sagenhaftes Eldorado. Die Zahl der Haustiere in Deutschland steigt seit Jahren kontinuierlich an. Heute leben sie in fast jedem zweiten Haushalt, rund 35 Millionen insgesamt. Für die Tierarztpraxen heißt das: Zweistellige Wachstumsraten selbst in Corona-Zeiten. Umsatzrenditen von 20, 30, 40 Prozent sind keine Seltenheit. Welche Branche kann das bieten?
Umstritten ist, was das alles für die Tierbesitzer bedeutet. Hinter Mars‘ Engagement vermuten viele ein strategisches Ziel: Mit Marken wie Cesar, Frolic, kitekat, Pedigree, Sheba und Whiskas gehört der Konzern zu den größten Futterproduzenten. „Mars kauft sich hier einen Absatzkanal und sichert ihn sich langfristig“, meint Patrick Döring, Gründer der Haustierversicherung Agila. „Niemand darf erwarten, dass in den Anicura-Kliniken Futter anderer Hersteller angeboten wird.“
Durch die Konzerne werde die Gesundheit von Haustieren „zum Spekulationsobjekt“, warnt die Gesellschaft für freie Tiermedizin, ein Zusammenschluss unabhängiger Praxen. Einer ihrer Wortführer: der Ulmer Tierarzt Ralph Rückert. „Es wird Krieg geben, und zwar um Marktanteile und Profitmaximierung“, prognostiziert er. Seine Befürchtung: Konzernmanager könnten ihre Praxen dazu drängen, möglichst viele teure Untersuchungen durchzuführen, ob nötig oder nicht. Belege, dass dies tatsächlich geschieht, gibt es nicht. Doch auch aus anderem Grund sieht Rückert die Übernahmen kritisch: „Das Engagement sinkt, das Herzblut geht verloren“, sagt der 63-Jährige. Er selbst setzt darauf, dass eine Mitarbeiterin seine Praxis eines Tages übernimmt, auch wenn er damit auf viel Geld verzichte. „Ich würde es nicht verkraften, meine Leute an einen Konzern zu verkaufen. Bevor ich mich einer Kette andiene, reiße ich mir lieber einen Arm ab.“
Im österreichischen Hollabrunn hat Günter Schwarz keine negativen Erfahrungen gemacht. „Das ist gut gelaufen“, sagt er, „ich wurde von AniCura nicht unter Druck gesetzt und hatte im medizinischen Bereich freie Hand.“ Auf Anfrage geben sowohl AniCura als auch Evidensia an, die medizinischen Entscheidungen allein den Tierärzten zu überlassen – auch markenspezifische Vorgaben für den Futterverkauf gebe es nicht. Welche Renditevorgaben sie den Praxen machen, verraten beide nicht.
Bis Mars die schwedische Kette übernahm. „Dann war das eine andere Marschrichtung“, sagt Meier. Seine Ansprechpartner wechselten, die neuen hielten ihn an, wenig lukrative Untersuchungen abzulehnen, weniger Notfallpatienten anzunehmen. Überstunden, die für ihn in der Zeit als Praxisinhaber bei Notfällen selbstverständlich waren, musste er sich von der Company genehmigen lassen. Das Familiäre im Praxisteam, in dem die Mitarbeiter sich duzten, sei plötzlich unerwünscht gewesen. Tierbesitzer meldeten ihm zurück, dass sie sich in der AniCura-Praxis mehr wie eine „Nummer“ vorkamen. Die Zusammenarbeit zwischen Arzt und Company endete nicht ohne Reibungen.
Einen Vorwurf an die Kollegen, die ihre Praxen an einen Konzern verkaufen, will selbst Kritiker Rückert nicht machen – und auch Peter Meier sagt: „Kaum eine Klinik entschließt sich, freiwillig an die Unternehmen zu verkaufen.“ Hinter dem Einstieg der Ketten steckt auch eine Entwicklung, die den Markt noch tiefgreifend verändern wird: Tierärzte haben ein massives Nachwuchsproblem.
Viele Haustierkliniken sind über Jahre stark gewachsen, haben für viel Geld moderne Medizintechnik angeschafft. Wer übernehmen möchte, muss mitunter mit einem Millionenbetrag einsteigen – eine Investition, die viele junge Tierärzte scheuen. Lange Zeit waren die Praxisinhaber zudem vor allem Männer, die sich nahezu rund um die Uhr um ihren Betrieb kümmerten. Ein Auslaufmodell. Die Veterinärmedizin ist weiblich geworden, und eine jüngere Generation Tierärzte will Work-Life-Balance, Teilzeitmodelle und Familien-Auszeiten. Einer wachsenden Zahl von Haustieren steht also eine sinkende Arbeitszeit bei den Tierärzten gegenüber. Es bräuchte mehr Veterinäre, doch die werden nicht ausgebildet: Die Zahl der Studienplätze liegt seit langem unverändert bei etwa 1.000 pro Jahr.
Bereits heute fehlten etwa 5.000 Tierärzte, schätzt Bodo Kröll, der den Ausschuss für Berufs- und Standesrecht bei der Bundestierärztekammer leitet. 500 zusätzliche Studienplätzte hält er für nötig, um das Nachwuchsproblem in den Griff zu bekommen. Wie ernst die Lage ist, dürfte sich in den kommenden zahn Jahren zeigen: Mehrere tausend Praxisinhaber werden dann das Rentenalter erreichen und aufhören – gleichzeitig die Chance für Investoren und Konzerne, den Markt weiter zu erobern. Ein Branchenbeobachter hält dies für eine Art rettende Notwendigkeit: „Wir laufen in ein großes Versorgungsproblem hinein. Ohne die Ketten wäre das heute bereits viel schlimmer.“
In zahlreichen Tierarztpraxen dürfte derzeit ein unscheinbarer Zettel aushängen, gestaltet von der Bundestierärztekammer. „Anpassung der Gebührenordnung für Tierärztinnen und Tierärzte (GOT)“, ist er überschrieben, und unter Verweis auf „gestiegene Kosten für medizinische Geräte, Personal, Versicherungen, Entsorgung und Energie“ wirbt er um Verständnis für die anstehende Preiserhöhung.
Vom 22. November an könnte es für Tierbesitzer teurer werden. Mit der neuen Gebührenordnung steigen die für Behandlungen vorgesehenen Sätze im Durchschnitt um mehr als 20 Prozent an. Für eine „allgemeine Untersuchung mit Beratung“ betragen sie bei Hund und Katze dann 23,62 Euro – die alten lagen bei 8,98 Euro (Katze) und 13,47 Euro (Hund). Für eine Schutzimpfung ist ein Satz von 11,50 Euro (ohne Impfstoffkosten) statt bislang 4,49 Euro vorgesehen, für die Kastration eines Katers 30,32 statt 19,24 Euro. Bei der Kastration (Ovarektomie) einer Katze verringert sich der Satz dagegen leicht von 57,72 auf 56,48 Euro.
Wie hoch die Rechnung am Ende ausfällt, ist damit allerdings nicht gesagt. Die Praxen haben großen Spielraum: Wie bisher auch, können sie das Ein- bis Dreifache der festgelegten Sätze abrechnen, bei Notfalldiensten dürfen sie bis zum Vierfachen gehen. Tierärzte sollen ihre Gebühren so auf die Umstände des Einzelfalls anpassen: Gibt es Komplikationen oder verhält sich ein Tier wenig kooperativ, darf die Praxis auch höhere Aufwände abrechnen. Die Bundestierärztekammer empfiehlt den Inhabern darüber hinaus, die Entscheidung auch von den Kosten der Praxisführung abhängig zu machen.
Welche Preissteigerungen genau auf Haustierbesitzer zukommen, ist damit schwer vorherzusagen. Einer vor zwei Jahren veröffentlichte Studie des Bundeslandwirtschaftsministeriums zufolge rechneten die Praxen 2019 im Durchschnitt den 1,44-fachen Satz ab, im Notdienst den 2,25-fachen. Branchenkenner berichten, dass die Tendenz seit langem steigend ist, bei noch immer viel Luft nach oben. Bei der Bundestierärztekammer bestätigt man, dass zwar auch die bisherige Gebührenordnung eine kostendeckende Abrechnung ermöglicht. Die Praxen bräuchten die neuen Sätze vor allem aber zur Legitimation für höhere Rechnungen.
Die Studie, mit der das Ministerium die Kosten jeder tierärztlichen Leistung einzeln bewerten ließ, lieferte auch die Grundlage für die Novelle der Gebührenordnung. Neu ist vor allem die seit mehr als 20 Jahren unveränderte Struktur: Moderne Verfahren wie Computertomographie (CT) waren im bisherigen Regelwerk noch überhaupt nicht vorgesehen. Die Gebühren waren zuletzt 2017 umfassend und 2020 noch einmal an einzelnen Stellen erhöht worden – der Kammer zufolge hinkten die Veränderungen der Inflationsrate jedoch stets hinterher. Dass sich die Kosten für Tierarztpraxen weiter erhöhen, ist hingegen unstrittig. Zuletzt stiegen beispielsweise die Tariflöhne für tiermedizinische Fachangestellte um bis zu 22 Prozent. Tierärzte hoffen, damit den Fachkräftemangel abmildern zu können.
Längst sind die Engpässe für die Tierbesitzer greifbar: Die Notdienstzeiten gehen zurück. Ein Maßstab dafür ist die Zahl der Tierkliniken.
„Klinik“ nennen darf sich eine Praxis nur nach festen berufsständischen Regeln. In Hessen etwa schreibt die Tierärztekammer wie in vielen anderen Bundesländern vor, dass eine Klinik Notfallpatienten rund um die Uhr versorgen muss. Mindestens ein Tierarzt hat deshalb „dienstbereit“, Hilfspersonal in Rufbereitschaft zu sein. Diesen Service bieten kaum noch Tierärzte an. Von den seit vielen Jahren relativ konstant etwas mehr als 10.000 Praxen in Deutschland hatten 2021 nach Daten der Bundestierärztekammer nur noch 157 den Klinik-Status, 40 Prozent weniger als fünf Jahre zuvor (264). Einen Notdienst für Kleintiere boten nur noch 80 der 157 Kliniken an, 2016 waren es noch 146 an. Auch Bodo Kröll musste in seiner Erfurter Praxis den Klinikstatus aufgeben: „Wir haben einfach keine Kollegen mehr gefunden, die bereit waren, Wochenend- und Nachtdienste im nötigen Maß abzudecken.“
Dieses Problem werden die Ketten nicht lösen, auch sie fahren manchen Notdienst zurück. Während mancher Tierarzt als Praxisinhaber nahezu selbstausbeuterisch Überstunden machte, sind die Unternehmen bei ihren Beschäftigten an Arbeitszeitregeln gebunden. Die Konzentrationsbewegung wird das nicht aufhalten – sie dürfte weiter Fahrt aufnehmen.
Kleine, unabhängige Haustierpraxen, die bei allen aufwändigeren Behandlungen an Tierklinik-Ketten überweisen. Die wiederum durch ihre schiere Größe kosteneffizienter arbeiten und deshalb als einzige noch in der Lage sein werden, sich teure OP-Säle und andere Spezialgeräte zu leisten: So skizziert Patrick Döring die Zukunft der Tiermedizin. Der frühere FDP-Generalsekretär ist als Vorstandschef der Wertgarantie-Gruppe gerade selbst Teil einer Marktumwälzung, die sich nicht auf Praxen beschränkt: Die Wertgarantie veräußerte ihre Agila Tierversicherung an die in Luxemburg niedergelassene JAB Holding Company der Unternehmerfamilie Reimann – und kaufte sich im Gegenzug in deren Pinnacle Pet Group ein, die die Marktführerschaft bei den Haustierversicherungen in Europa anstrebt. In Nordamerika und Ozeanien ist die JAB Holding auch an Tierkliniken beteiligt. Offenbar hofft man auf Synergien für die Steuerung von Schadenskosten und Tarifmodellen durch einen regen Datenaustausch.
Für die Zukunft rechnet Döring mit einer noch stärkeren Konzentration. Bereits in wenigen Jahren könnten die meisten Versicherungen, Tierkliniken und veterinärmedizinischen Labore gemeinsam in den Händen weniger Akteure liegen, sagt er: „Die veterinärmedizinische Landschaft wird schon am Ende dieses Jahrzehnts ganz anders aussehen als heute.“
Dieser Text erschien zuerst in der
Frankfurter Rundschau. Foto: pixabay/David Mark
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