10. Januar 2024
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Man wüsste schon gern, was Hubertus Heil darüber denkt. In einem Rechtsgutachten, beauftragt von den Linken im Bundestag, werfen Juristen dem deutschen Sozialstaat nicht weniger als einen Menschenrechtsverstoß vor. Mehrere Studien hatten in den vergangenen Jahren dargelegt, dass der ins Bürgergeld eingerechnete Geldbetrag für Lebensmittel zu niedrig ist, um sich davon gesund zu ernähren. Die von der Linksfraktion noch kurz vor ihrer Auflösung beauftragte Hamburger Anwaltskanzlei Günther hält das für völkerrechtswidrig.
Ihre Argumentation: Dem UN-Sozialpakt zufolge müsse Deutschland seinen Bürgern garantieren, dass ihr Budget für den Lebensmitteleinkauf nicht nur zum Sattwerden reicht, sondern auch für nährstoffreiche Produkte. Das Bürgergeld leiste das nicht und verstoße somit gegen das das Menschenrecht auf angemessene Nahrung – Obst und Gemüse sind nun einmal teurer als täglich Nudeln.
Starker Tobak – aber offenbar so gar kein Thema für den Bundessozialminister. „Das BMAS [Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Anm. RiffReporter] lehnt diese Argumentation und die Schlussfolgerungen ab“, teilt eine Sprecherin Heils auf Anfrage mit. Das Bürgergeld werde als Gesamtpauschale ausgezahlt, daher sei es bereits „unzulässig“ herauszurechnen, wie viel für den Essenseinkauf zur Verfügung steht. Wie die Menschen das Geld aufteilten, sei ihre Sache – und wenn gar kein Betrag für Lebensmittel definiert ist, kann auch niemand sagen, ob er reicht oder nicht.
Vor einem Jahr war es nicht der Sozialminister, sondern der grüne Minister für Landwirtschaft und Ernährung Cem Özdemir, der in einem Gastbeitrag für die Welt als erstes Mitglied einer Bundesregierung Ernährungsarmut als Problem im reichen Deutschland offen anerkannte. Ob Hubertus Heil, der auch Vizechef der Bundes-SPD ist, das teilt? Seine Sprecherin geht auf diese Frage mit keiner Silbe ein.
So geht das seit Jahren. Schon 2020 hatte der Wissenschaftliche Beirat (WBAE) des damals noch CDU-geführten Bundesernährungsministeriums erstmals bemängelt, dass Hartz IV Mangelernährung fördere und damit die gesunde Entwicklung von Kindern in Armut irreversibel gefährde. Seitdem stiegen zwar die Sozialleistungen – die Lebensmittelpreise aber noch stärker. In ihrer Antwort auf die Anfrage eines Grünen-Abgeordneten antwortete 2021 Heils Parlamentarische Staatssekretärin Kerstin Griese (SPD) sinngemäß auf die WBAE-Kritik: Man erhebe ja gar nicht, wie viel eine gesundheitsfördernde Ernährung kostet – also könne man das Ziel einer gesundheitsfördernden Ernährung beim Regelsatz auch nicht berücksichtigen.
Für Vertreter:innen einer Partei, die das Soziale als Markenkern versteht, ist das angesichts der Dimension – immerhin geht es um die Zukunft benachteiligter Kinder – eine bemerkenswerte kühle Haltung. Doch sie hat eine gewisse Tradition: Ernährungsarmut scheint ein blinder Fleck der SPD zu sein. Spätestens dann, wenn es ums Geld geht.
Ob der damalige Berliner Finanzsenator Thilo Sarrazin das Zentrum seiner Partei verkörperte, als er 2008 seinen Hartz-IV-Speiseplan für angeblich gutes Essen („gesund und wertstoffreich“) zum kleinen Preis vorlegte, sei dahingestellt. Denn auch ein Ur-Sozialdemokrat wie Franz Müntefering, in seiner Karriere unter anderem Partei- und Fraktionschef, verstörte 2006 in einer Sitzung mit einem Zitat des Ur-Ur-Sozialdemokraten August Bebel: „Nur wer arbeitet, soll auch essen.“ Damals war Müntefering Bundessozialminister.
Ein solcher Satz ist von Amtsnachfolger Heil nicht überliefert. Unter seiner Führung lässt das Ministerium die Kritik einfach an sich abperlen. Meist mit dem Hinweis, dass man aus den Sozialleistungen eben nicht herausrechnen könne, wie viel Geld für Lebensmittel gedacht ist.
Die Gutachter der Linken widersprechen dem in ihrer Expertise vehement. Denn initial ist durchaus ein Betrag für Essen in den Regelsatz einberechnet worden, ermittelt auf Grundlage der realen Ausgaben einkommensschwacher Haushalte aus dem Jahr 2018. Seitdem wurde zunächst Hartz IV, dann das Bürgergeld mehrfach erhöht, ohne die aktuellen Lebensmittelausgaben neu zu ermitteln. So bleibt nur jene rechnerische Näherung, die das Ministerium als unzuverlässig einstuft: Schriebe man den ursprünglichen Betrag im Verhältnis der Gesamterhöhungen fort, stünden einem Erwachsenen derzeit 5,73 Euro am Tag für Essen und Getränke zur Verfügung – für eine gesunde Ernährung zu wenig.
Die Juristen halten bereits die Methodik der Regelsatzfestlegung für menschenrechtswidrig: Diese orientiert sich an den tatsächlichen Konsumausgaben einkommensschwacher Schichten, fragt aber nicht danach, wie viel Geld für ein gesundes Leben überhaupt gebraucht wird. Hätten Einkommensschwache bereits heute zu wenig, würde dieses System festschreiben, dass es für Bürgergeld-Beziehende auch künftig zu wenig bleibt. Freilich könnten sie auch mehr als 5,73 Euro am Tag für Lebensmittel ausgeben, argumentieren die Gutachter – dafür müssten sie aber ihr Existenzminimum dafür in anderen Bereichen so beschneiden, dass auch dies in ihre Grundrechte eingriff. Heils Sprecherin geht auch auf diese Hinweise nicht weiter ein.
Es ist keineswegs so, dass die SPD das Thema ignoriert. Bereits Ende 2020, noch zu Zeiten der Großen Koalition, beschloss die sozialdemokratische Bundestagsfraktion ein Positionspapier „Ernährungsarmut in Deutschland bekämpfen“. Es enthält fast jede denkbare Forderung, von der Zuckerreduktion bis zum gesunden Schulessen. Ein Gedanke aber fehlt: Dass es dem ärmeren Teil der Gesellschaft am Geld fehlen könnte, um sich gesundes Essen leisten zu können. So lesen sich auch die regelmäßigen Armuts- und Reichtumsberichte der Bundesregierung. Die jüngste Ausgabe – verantwortet von Minister Heil – streift das Thema nur am Rande, um Armutsbetroffenen ein „ungünstiges Ernährungsverhalten“ zu bescheinigen. Das liest sich, als hätten sie alle Möglichkeiten, während die Frage, ob der Staat seiner Verpflichtung nachkommt, gar nicht erst diskutiert wird.
Um den echten Geldbedarf bei den Sozialleistungen zu berücksichtigen, müssten Experten einen „Warenkorb“ auf Basis eines „Ernährungsplans“ erstellen und dessen Kosten ermitteln, erklärt die Sprecherin Heils. Weil dies eine „Vielzahl an normativen Setzungen“ erfordere, ist es aus Sicht des Ministeriums „nicht umsetzbar“. Die Logik ist bequem: Wenn der Regelsatz nur eine „statistische Größe“ sei, die „in keinerlei Zusammenhang zu einzelnen Gütern und Dienstleistungen“ stehe, muss man sich auch nicht damit befassen, zu welcher Art von Ernährung das Geld am Ende reicht.
Für die kürzlich zur Ressortabstimmung an die anderen Ministerien verteilte Ernährungsstrategie der Ampel-Koalition hatte Cem Özdemir versprochen, soziale Aspekte zu einem Kernthema zu machen. Wie zu hören ist, wird er viel mehr als einen Appell für eine bessere datenmäßige Erfassung der Ernährungsarmut wohl nicht durchbekommen. Das liegt an einer FDP, die schon nach dem Haushaltsurteil des Bundesverfassungsgerichts am liebsten als erstes beim Bürgergeld gespart hätte. Aber auch an einer SPD, bei der bisher niemand das Thema Ernährungsarmut so richtig mit der Geldfrage zusammenbringt.
Vielleicht ändert sich das langsam. Einige jüngere Abgeordnete jedenfalls treten dafür ein. Ob Sozialleistungen für eine gesunde Ernährung reichen müssten? „Ja, natürlich sehe ich das so“, sagt etwa die SPD-Abgeordnete Peggy Schierenbeck. Der Ernährungspolitikern ist das Thema zweifellos ein Anliegen: „Es ist eine Frage der sozialen Gerechtigkeit, dass sich alle Kinder gesund ernähren können“, sagt sie. Es gehe allerdings nicht nur um die finanziellen Möglichkeiten, sondern auch darum, dass die Menschen eine gesunde Ernährung tatsächlich umsetzten. Beim politischen Rahmen dafür sei man heute so weit wie nie, ist Schierenbeck überzeugt: Die Koalition bereite eine Werberegulierung für Ungesundes und Projektförderungen für gesundes Schulessen vor.
Und das Geld? „Natürlich müssen wir auch übers Geld reden.“ Dazu sei es nötig, auf die Sozialpolitiker der Fraktion zuzugehen. „Das werde ich tun“, kündigt Schierenbeck an.
Einer, bei dem sie offene Türen einrennen würde, ist der SPD-Abgeordnete Takis Mehmet Ali. „Ich habe nicht das Gefühl, dass das Thema bisher vordergründig stark diskutiert wird“, räumt der Sozialpolitiker ein. Er sitzt seit zwei Jahren im Bundestag, gleich zu Beginn der Wahlperiode hatte er sich für eine andere Methode zur Berechnung der Regelsätze stark gemacht. „Das war aber nicht mehrheitsfähig“, sagt Mehmet Ali. Am liebsten wäre es ihm, die Sozialpolitik würde sich künftig grundsätzlich an Nachhaltigkeitskriterien ausrichten.
Liegt es an den Kosten für das Bürgergeld im Haushalt und an den schwierigen Debatten über vergangene Erhöhungen, dass die Sozialpolitik das Thema materielle Ernährungsarmut umschifft? Schon möglich, vermutet der Lörracher Abgeordnete. „Aber die Frage steht im Raum und irgendwann müssen wir das diskutieren.“ Vielleicht, so hofft er, könnte das Thema über den Petitionsausschuss in den parlamentarischen Prozess einfließen. Und auch das Rechtsgutachten der Linken könnte einen Anstoß geben. Mehmet Ali bewertet es jedenfalls ganz anders als Hubertus Heil: „Ich finde das Gutachten gut.“
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Der Text erschien zuerst in der taz. Bild: BMAS/Dominik Butzmann.
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