Nach folgenschweren Listerien-Skandalen wird nun erstmals geregelt, wie oft Lebensmittelhersteller ihre Produkte im Labor testen lassen sollten. Doch die „Leitlinie“ erarbeitet kein Gesetzgeber, sondern die Lebensmittelwirtschaft – wer daran beteiligt ist, weiß nicht einmal das verantwortliche Ministerium. Verbraucherzentralen üben scharfe Kritik.
16. Juli 2022
Rund 600 Menschen erkranken in Deutschland jedes Jahr durch Listerien. 30 bis 40 von ihnen sterben an der Infektion mit den gefährlichen Bakterien, die sich vor allem durch Lebensmittel übertragen. Besonders oft trifft es Ältere und Schwangere: Allein für 2020 hat das Robert Koch-Institut zwei Tot-, zwei Fehl- und zehn Frühgeburten durch Listerien erfasst. Um solche Fälle möglichst zu vermeiden, verpflichtet die EU Lebensmittelhersteller, gefährdete Produkte stichprobenhaft im Labor testen zu lassen. Doch: wie oft sie das müssen, ist nicht geregelt.
Behörden wie Unternehmen stellt das vor Probleme. Als ich mit einem Bericht in der Welt am Sonntag im April 2022 den Hygieneskandal um einen hessischen Obst- und Gemüsebetrieb enthüllte, dessen Produkte nach Behördenmeinung für vier Erkrankungen und einen Todesfall verantwortlich waren, zeigte sich auch: Den Kontrolleuren erschien die Zahl der Listerienproben des Unternehmens zu gering – aber was hieß das, gering? Eine Vorgabe, wie oft getestet werden muss, existiert nun einmal nicht. „Die Lebensmittelunternehmen scheinen dieses Problem im Rahmen der aktuellen Vorschriften selbständig nicht ausreichend unter Kontrolle zu bekommen“, kritisiert Christiane Seidel, Lebensmittelexpertin beim Verbraucherzentrale Bundesverband (vzbv). Sie fordert „verbindliche Kontrollintervalle“.
Die aber sind nicht in Planung. Stattdessen soll in Deutschland bald eine Leitlinie vorgeben, wie oft Proben ins Labor geschickt werden sollten. Rechtlich wäre das nicht bindend. Doch solange es kein Gesetz gibt, wäre es der entscheidende Maßstab für Unternehmen und Behörden.
Die Leitlinie wird derzeit erarbeitet – nicht allerdings von einem Verbraucherschutzministerium, sondern fernab der Öffentlichkeit von einem Kreis unter Federführung des Lebensmittelverbandes. Kein Parlament soll sich mit der Leitlinie befassen, und auch Verbraucherschützer wussten bis zu meiner Anfrage nichts von dem Vorhaben. Nicht einmal das verantwortliche Ministerium konnte auf Anfrage beantworten, wer genau beteiligt ist und wie sie dabei vorgehen. Wie kommt es ein einem solch intransparenten Prozess?
Lebensmittelkontrolle in Deutschland ist eine komplexe Angelegenheit: Generell zuständig sind die Bundesländer. Deren Verbraucherschutzminister treffen sich regelmäßig zum Austausch in der Verbraucherschutzministerkonferenz (VSMK), und für detailliertere Absprachen auf Arbeitsebene der Ministerien gibt es die Länderarbeitsgemeinschaft Verbraucherschutz (LAV). Die wiederum hat eine Reihe ständiger Arbeitsgruppen definiert.
Eine dieser Arbeitsgruppen nun spielt eine wichtige Rolle bei der Bekämpfung von Listerien, die Gruppe für „Fleisch- und Geflügelfleischhygiene und fachspezifische Fragen von Lebensmitteln tierischer Herkunft“ – kurz AFFL. Die Arbeitsgruppe hatte Mitte 2019 erkannt, dass es ein Problem gibt: Einerseits funktioniert die Eigenkontrolle der Lebensmittelhersteller aus ihrer Sicht nur unzureichend, wie die immer wiederkehrenden Listerienskandale zeigen. Andererseits fehlt den Kontrollbehörden aber die Macht, daran etwas zu ändern. So geht es aus einem nicht-öffentlichen Schreiben der Berliner Senatsverwaltung für Verbraucherschutz hervor, die der Arbeitsgruppe damals vorstand.
Und nun?
Zur Lösung gründete die Arbeitsgruppe der Arbeitsgemeinschaft noch ein weiteres Untergremium: die „Projektgruppe Handlungsfelder zur Verbesserung der Zuverlässigkeit der Eigenkontrollsysteme der Lebensmittelunternehmen im Hinblick auf die Vermeidung von Erkrankungsausbrüchen mit Listeria monocytogenes“, wie das Bakterium präzise heißt. Beteiligt sind Vertreter von Behörden, Wissenschaft und Wirtschaft. Aus dieser Projektgruppe schließlich kam der Anstoß, eine Leitlinie zu erarbeiten – damit beauftragt: der Lebensmittelverband, die zentrale Interessenvertretung der Branche.
Öffentlich kaum bekannt, ist das Verfahren im EU-Recht so vorgesehen: Wirtschaftsverbände erarbeiten „einzelstaatliche Leitlinien für die Gute Hygienepraxis“, Ministerien prüfen und die Bundesregierung notifiziert sie bei der Europäischen Kommission. 71 solcher Leitlinien gibt es in Deutschland bereits. Eine weitere soll jetzt also klären, wie häufig Lebensmittel auf Listerien analysiert werden, um neue Ausbrüche zu verhindern.
Wer ist daran beteiligt? Im thüringischen Gesundheitsministerium, das derzeit der VSMK und der LAV vorsitzt, ist dazu nichts bekannt: „Außer der Federführung des Lebensmittelverbandes wurden keine weiteren Beteiligten beschlossen“, heißt es auf Anfrage. Der Lebensmittelverband erklärt, dass auch der Milchindustrieverband sowie der Bundesverband Deutscher Wurst- & Schinkenproduzenten mitwirkten. Wer noch, welche Experten, Sachverständigen, Wissenschaftler? Das legt er nicht offen.
Sicher ist, dass der Verband auch Marcus Langen nominierte – den stellvertretenden Geschäftsführer des Privatlabors Dr. Berns . Beim „Food Safety Kongress“, einer Fachkonferenz der Handelsblatt-Gruppe in Berlin, gab Langen im Mai seltene Einblicke in die Arbeit an der Leitlinie – und die rufen die Verbraucherzentralen auf den Plan. Derzeit werde darüber beraten, inwieweit man „kleine Betriebe von der Probenahmehäufigkeit ausnehmen“ kann, berichtete Langen. Es gebe auch die Idee, Produkte, die „ähnliche Eigenschaften“ haben und „identische Herstellungsprozesse“ durchliefen, zu Gruppen zusammenzufassen. Damit müsste künftig nicht mehr jedes Produkt auf Listerien getestet werden, „sondern nur noch einzelne Artikel einer Gruppe stellvertretend“. Auch Analysen zum Wachstumsverhalten der Bakterien – die wichtig sind, um das Keim-Risiko bis zum Ende der Haltbarkeit zu bemessen – könnten dann von einem Produkt auf die Gruppe „übertragen werden, so dass man auch dort eine ganze Menge an Geld sparen kann.“
Laboranalysen können für die Unternehmen ins Geld gehen. Geht es darum, weniger zu testen? Oder macht es Sinn, Produkte in Testgruppen zusammenzufassen, um möglichst effektiv das ganze Sortiment eines Herstellers Listerien-sicher zu machen? Die Verbraucherzentralen sind skeptisch, ob der Ansatz das Gesundheitsrisiko senken kann: Die Kontrollhäufigkeit sollte nicht davon abhängen, ob ein Betrieb groß oder klein ist – sondern davon, mit welchen Lebensmitteln er arbeitet. Bei rohem Fleisch und Fisch oder vorgeschnittenem Obst und Gemüse ist das Risiko höher als bei anderen Produkten. Dass die Größe nicht der entscheidende Faktor sein muss, zeigt der zuletzt bekannt gewordene Listerien-Skandal: Nach 13 Erkrankten und einem Toten seit 2015 geriet jetzt ein kleiner Gemüsebetrieb in Bayern unter Verdacht.
„Komplett ausnehmen würde ich kleine Betriebe nicht“, sagt auch Martin Wagner, Leiter der Abteilung für Lebensmittelmikrobiologie an der Veterinärmedizinischen Universität Wien. Er hält es zwar für denkbar, nicht mehr alle Produkte einzeln, sondern Gruppen zu testen. Doch welche Produkte sind sich wirklich ähnlich genug? Um Fehlschlüsse zu vermeiden, müssten eigentlich erst alle verfügbaren Laborergebnisse der Unternehmen ausgewertet werden. Schon unterschiedliche Gewürze könnten die Vermehrung der Bakterien beeinflussen, weshalb vor allem die Analysen zum Wachstum der Keime von Produkt zu Produkt „praktisch nicht übertragbar“ seien, so der Listerien-Experte. Aber alle Ergebnisse in eine Datenbank stecken, wenn auch nur anonym? „Das wollen die Betriebe nur nicht so gern“, sagt Wagner.
Dass von der Wirtschaft erarbeitete Leitlinien nicht zwingend mehr Lebensmittelsicherheit bringen müssen, zeigt die 2016 veröffentlichte Leitlinie für vorgeschnittenes Obst und Gemüse im Einzelhandel. Das Listerienrisiko schätzen die Verbände darin aufgrund der kurzen Haltbarkeit als „gering“ ein – weshalb sie Labortests nur einmal im Jahr empfehlen. Dass das Risiko so klein nicht ist, zeigte sich spätestens in diesem Jahr, in dem Behörden gleich zwei Listerienausbrüche auf vorgeschnittene Rohkost zurückführten.
Doch es gibt ja noch eine Rückkopplung: Wenn der Lebensmittelverband planmäßig Ende des Jahres seinen Entwurf der neuen Listerien-Leitlinie vorlegt, müssen Ministerien ihn prüfen – zudem muss der Text „im Benehmen“ mit Verbraucherverbänden erstellt werden. So verlangt es die EU-Verordnung. In Deutschland muss der Verbraucherzentrale Bundesverband daher die Möglichkeit zur Stellungnahme erhalten. Doch bis zu meiner Anfrage waren dort weder die aktuelle Leitlinienarbeit noch das Verfahren an sich bekannt, obwohl jedes Jahr mehrere solcher Leitlinien entstehen.
Verwundern kann das kaum, denn ein echtes Interesse an der Beteiligung der Verbraucherschützer besteht anscheinend nicht. Beim vzbv recherchierte man, wie es in der Vergangenheit lief – und entdeckte zu den zuletzt verabschiedeten Leitlinien tatsächlich E-Mails vom Lebensmittelverband. Sie richteten sich an die federführenden Bundesländer, bitten um eine Stellungnahme der Ministerien – im Anhang: der fertige Leitlinienentwurf. Den vzbv setzte der Branchenverband lediglich „nachrichtlich“ in Kopie, adressiert ihn weder in der Anrede noch bittet er ihn um Stellungnahme.
An keiner Stelle mussten sich die Verbraucherschützer angesprochen fühlen – entsprechen kommentierten sie die Entwürfe auch nicht. vzbv-Lebensmittelexpertin Seidel sieht die Politik gefordert, das gesamte Verfahren zu ändern: „Zentrale Fragen des gesundheitlichen Verbraucherschutzes sollten im Rahmen staatlich legitimierter, transparenter und auf Wissenschaftlichkeit basierender Prozesse geklärt werden und nicht primär von der Lebensmittelindustrie selbst.“
Diese Recherche erschien zuerst bei
welt.de. Foto: Giovannicancemi/CrushPixel.
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